Zu diesem Anlass hielt Bundespräsident Johann N. Schneider-Ammann, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung letzte Woche in Bern eine etwas geschwollene Rede
Er habe sich sehr gefreut auf die Fotoausstellung, die zu diesem Jubiläum auf eine eindrückliche Weise die Vielfalt jüdischer Lebensentwürfe in der Schweiz zeigt. Damit eröffnete er die Rede der Feierlichkeit. Ebenfalls sei er sehr gespannt auf das dazu folgende Kulturprogramm, das allein schon von den Namen her sehr vielversprechend «getönt» hat. Ja, die Schweiz wäre ohne ihre jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht, was sie ist: nämlich ein starkes, kulturell vielfältiges, wirtschaftlich erfolgreiches und gesellschaftlich tolerantes Land. Die Schweiz sei schlicht ein Wunder, wie ihm kürzlich ein europäischer Ministerkollege sagte. Ob dabei jemand an die momentan lancierte «Durchsetzungs-Initiative» gedacht hat, sei mal dahingestellt.
Das zeigte sich anscheinend offensichtlich dort in der Kultur, wo die Leistungen jüdischer Kulturschaffender Teil der Schweizerischen Identität geworden sind. Das zeigte sich auch in der Wissenschaft mit mehreren Schweizer Nobelpreisträgern jüdischer Herkunft als eigentliche Speerspitzen. Auch hier blieb offen, ob diese preisgekrönten Wissenschaftler mit einer Niederlassungsbewilligung auch alle brav nachkontrollieren, ob sie nicht zu viel Kinderzulagen einkassieren. Denn hierbei würden sie sich bei einer Annahme der «Durchsetzungs-Initiative» des Sozialmissbrauchs strafbar machen und müssten das Land für zehn Jahre das Land verlassen.
Will da jemand was von mir?
Und dann denke er an die zahlreichen jüdischen Unternehmerinnen und Unternehmer, die mit Ihrem Einsatz, Ihrer Tatkraft, mit ihren Ideen und ihren Emotionen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, dass die Schweizer Wirtschaft heute einen einzigartigen Ruf in der Welt hat. Dazu verzichtete er ganz bewusst auf Namen, denn die Liste wäre zu lang und eine Auswahl wäre ungerecht. Aber einen Namen müsse er nennen. Wo würden sich auswärtige Besucher der Bundesstadt mit Einheimischen verabreden, wenn nicht an der Loeb-Ecke? Dadurch wäre zu sehen, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger haben das Land in verschiedenster Hinsicht stark geprägt, ja seien sogar Treff-, Ausgangs- und Orientierungspunkt.
Sie haben die Schweiz deshalb so mitgeprägt, weil Sie gekommen sind, um zu bleiben, wie dies der SIG-Präsident kürzlich treffend formulierte. Kommen und bleiben. Das ist ein hoher Anspruch. Bleiben bedeutet, sich einbringen. Bleiben heisst, Position zu beziehen, sich Diskussionen zu stellen und sich damit auch angreifbar zu machen. Bleiben bedeutet vor allem auch: Verantwortung zu übernehmen. Dass das nicht immer einfach gewesen ist und auch heute nicht immer einfach sei, liege auf der Hand. Dieser Wille zu einer Integration, welche die Werte unseres Lands fraglos lebe ohne dabei die eigene religiöse und kulturelle Identität aufzugeben, diese Wille verdiene grosse Anerkennung. Wenn er sich nun in diese Lage versetzen würde und all diese Lobesworte hören würde, glaube er, ihn beschliche ein etwas seltsames Gefühl. Man würde sich wohl unweigerlich fragen, will da jemand was von mir?
Nicht die Rede vom Mittelalter
Wie heisse es doch so schön: Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Aber es sei klar: Man muss nicht mit besonders wachem Geist durch die Geschichte gehen, um zu sehen, dass die Integration der jüdisch-stämmigen in unserem Land alles andere als konfliktfrei verlief. Vom Mittelalter wolle er erst mal gar nicht reden. Dass sie aber explizit nicht gleichberechtigt waren in der ersten Bundesverfassung von 1848 zeigt doch deutlich, wie ambivalent das Verhältnis der Schweizer Vorväter den Juden gegenüber war, die damals im Berner Einwohnerregister noch als Hebräer aufgeführt waren. Es brauchte bekanntlich den Druck von aussen, dass am 14. Januar 1866, vor 150 Jahren, die Verfassung geändert wurde. Ohne die Androhungen von Handelsboykotten der Amerikaner, Engländer, Franzosen und Niederländer wäre wohl kaum etwas geschehen.
Dass Gleichberechtigung ein langer, manchmal zäher Prozess ist, zu dem auch Rückschläge gehören, zeigt sich auch später immer wieder. Erwähnenswert sind sicher das Schächtverbot von 1893 und vor allem die schwierigen Zeiten des zweiten Weltkrieges und des Holocausts. Und auch heute, 150 Jahre nach der verfassungsmässigen Anerkennung, ist der Antisemitismus im Land leider immer noch nicht vollständig überwunden. Bekanntlich würden weltweite Entwicklungen auch keinen Halt vor der Schweiz machen.
Es sei deshalb (gerade in Nachgang zu den schrecklichen Attentaten von Paris) nur zu verständlich, dass auch in der jüdischen Gemeinschaft das Bedürfnis nach besserem Schutz angestiegen ist. Man wisse, der Bundesrat hat Ende Jahr zusätzliche Massnahmen beschlossen, um die Sicherheit im Land zu gewährleisten. Und eine Arbeitsgruppe mit Vertretern der jüdischen Gemeinschaft will Massnahmen ausarbeiten, wie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger besser geschützt werden können. Auch wenn es niemand gerne zugeben möchte- die Schweiz hat sich mit der Einwanderung nie leichtgetan. Weder bei den Juden, noch bei den Italienern, Spaniern und Portugiesen in den 60er-Jahren noch bei den Menschen aus dem Balkan Ende des letzten Jahrhunderts. Heute noch treffen und betreffen Konflikte und Krisen, Terror, Flüchtlingsströme auch die Schweiz ganz direkt.
Dem Beispiel der Juden folgen
Wenn diese neuen Einwanderer dem Beispiel der Juden folgen, wenn sie sich integrieren wollen, wenn also Einwanderer kommen, um zu bleiben, dann kann Einwanderung auch zum Gewinn werden. Ein kleines Land wie die Schweiz hat mindestens jenen nach Kräften Schutz zu gewähren, die echt an Leib und Leben bedroht sind. Damit kam der Bundespräsident zum Schluss. Wenn uns die Geschichte der jüdischen Emanzipation etwas gelernt hätte, dann dies: Die Identität eines Landes verlange nicht, dass alle Bürgerinnen und Bürger uniform seien. Viel wichtiger sei es, dass alle Menschen dieses Land als ihre Heimat empfinden können, ohne die eigenen Werte aufgeben zu müssen. Allerdings stehe ausser Frage, dass unsere demokratischen Regeln für alle die gleichen seien und von allen vollständig akzeptiert werden müssen. Das bedinge immer wieder Offenheit, Kompromissbereitschaft und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Diese Werte haben das Land stark gemacht. Die Einwohner der Schweiz sollten alle weiterhin Sorge zu diesen Werten tragen und die Zukunft gemeinsam mit viel Mut und Zuversicht angehen.