Burnout? Simulant, heisst es bei vielen Arbeitgebern. Tatsache ist: Immer mehr Schweizer sind ausgebrannt und die Zahl der psychisch und physisch Erschöpften steigt
Rund jede sechste Person in der Schweiz leidet an einer psychischen Störung. Dies zeigt der neuste Monitoringbericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan). Psychische Krankheiten gehören zu den häufigsten und den einschränkendsten Krankheiten überhaupt. Sie wirken sich auf alle Lebensbereiche der Betroffenen aus und können zu grossen Beeinträchtigungen führen. “Allein in der Schweiz belaufen sich die durch stressbedingte Beschwerden verursachten Kosten auf jährlich 4,2 Milliarden Franken. Die Vermutung liegt nahe, dass Burnout für einen Grossteil dieser Kosten verantwortlich ist”, erklärt Psychiater Joe Hättenschwiler vom Zentrum für Angst-und Depressionsbehandlung (ZADZ) in Zürich. Genau erfasst seien Burnout-Fälle jedoch nicht, da die Erkrankung noch nicht als eigenständige klinische Diagnose anerkannt ist. Besonders betroffen von der totalen Erschöpfung und Depressionen sind hauptsächlich leistungsstarke Menschen und Mitarbeiter mit dem Hang zur Perfektion, dies bestätigt Psychiater Hättenschwiler. Werden die erbrachten Leistungen nicht gewürdigt und bleibt die Anerkennung über weite Strecken aus, droht, dass die Betroffenen Misserfolge im Arbeitsleben als persönliche Niederlagen betrachten. Doch auch auszehrende Berufsgruppen wie etwa die Ärzte selbst, leiden an Burnout. Präventivmediziner und FDP-Ständerat Felix Gutzwiller sprach den Medizinern ins Gewissen: “Was Ärzte gerne verdrängen, ist die Tatsache, dass auch sie nur Menschen sind und damit auch der Gefahr unterliegen zu erkranken. Dies spielt insbesondere beim Thema Burnout eine Rolle. Hier scheint sich eine grosse Diskrepanz zwischen Diagnose bei einem Patienten und dem Erkennen des eigenen Betroffenseins aufzutun.” Bei der Behandlung von Burnout sei es wichtig, sich an den individuellen körperlichen, seelischen und geistigen Grenzen des Patienten zu orientieren. Und möglichst früh mit der Behandlung zu beginnen. “Wer über längere Zeit nachts nicht mehr schlafen kann, sollte zur Abklärung”, rät Joe Hättenschwiler.
< 2012 wird das Jahr des Burnouts>
Immer und überall erreichbar und verfügbar sein: Smartphones, Laptops und Tablets machens möglich. Doch die mobilen Möglichkeiten haben einen hohen Preis. Ob mitten in der Weihnachtsfeier mit der Familie, beim Sonntagsbrunch mit Freunden oder in den Ferien auf der Trauminsel: Viele Menschen sind heute nirgends mehr vor Geschäfts-E-Mails oder -Anrufen sicher. Denn durch die Möglichkeit, Daten in den «Wolken», sprich in den Clouds, zu speichern, ist das Büro inzwischen überall, wo man selber ist – und das Tag und Nacht. Arbeit und Freizeit verschmelzen, man wird zum sogenannten «Workstyler». Begleitet wird diese Entwicklung vom LaissezFaire-Führungsstil. Die Chefs setzen dabei auf die Selbstmanagement-Kompetenz ihrer Angestellten. Auch wenn diese Form der Arbeitsorganisation Freiheiten bietet: Für manche Arbeitnehmer macht sie es schwierig, sich abzugrenzen und abschalten zu können. “2012 wird deshalb das Jahr des Burnouts”, sagt Jens Meissner, Professor für Organisation und Innovation an der Hochschule Luzern. Die Arbeitnehmer müssten zuerst lernen, mit der neuen Arbeitsform umzugehen, so der Fachmann.
Generation Angst
Es erscheint schon etwas paradox. Wir leben im Wohlstand und kennen Krieg und andere Katastrophen meist nur aus den Nachrichten. Gleichwohl prägen Ängste und Unsicherheiten das Lebensgefühl vieler Schweizerinnen und Schweizer. Denn noch nie hatten so viele Menschen so viel zu verlieren: Sicherheit, Wohlstand, Zukunftschancen. Sie gehen zu allen möglichen Vorsorgeuntersuchungen, schliessen Versicherungen gegen alles Mögliche ab, hören Experten zu, um auf alles vorbereitet zu sein. Dies macht die Menschheit aber nicht etwa fröhlich oder angstfrei, sondern im Gegenteil, es führt vielen erst vor Augen, was alles passieren kann. Für viele klingt dies nach Jammern auf hohem Niveau. Andere hingegen streben ihr Leben lang nach Perfektionismus, hinter welchem sich oft narzisstische Ängste und Kontrollverluste verstecken. Man sollte die Gefahren solcher Einstellungen nicht unterschätzen. Auch Jugendliche stehen oft unter grossem Druck. Denn viele von ihnen spüren, dass sie die Karrieren ihrer Eltern nicht wiederholen können. Dadurch reden sie sich ein, nicht gut genug zu sein und stürzen sich in ein Stimmungsloch. Sie ziehen sie sich oft dauerhaft zurück und vermeiden soziale oder intime Kontakte. Je länger ein Alleinlebender intime Nähe vermeidet, desto ängstlicher wird er. Zu lang anhaltende Angst führt zu einem fatalen Teufelskreis: Depressionen, welche sich durch die unterschiedlichsten Symptome und Zustände äussern.
Andrew Solomon, 48, Journalist:
“Selten wird darüber geredet, wie lächerlich sich Depressionen äussern können. Ich erinnere mich, dass ich erstarrt im Bett lag und weinte, weil ich mich fürchtete, zu duschen. Gleichzeitig wusste ich, dass Duschen nichts Fürchterliches ist. Ich ging die Schritte im Geist durch: Aufsetzen, drehen, die Füsse auf den Boden setzten, aufstehen, zum Bad laufen, die Tür öffnen, zur Wanne gehen… Ich teilte es in vierzehn Schritte auf. So beschwerlich wie der Kreuzweg. In der Hoffnung, dass jemand anderes die Badezimmertür öffnen könnte, zwang ich mich, mich aufzusetzen, zu drehen und die Füsse neben dem Bett abzustellen. Dann fühlte ich mich so verängstigt und unfähig, dass ich mich wieder umdrehte und mein Gesicht wieder ins Bett vergrub. Dann weinte ich wieder, weil es mir so idiotisch vorkam, dass ich so etwas Alltägliches nicht fertigbrachte. Es gab Zeiten, in denen ich mit Freunden skydiven gegangen bin: 1500 Meter über dem Boden zur Spitze eines Flugzeugfl ügels zu kraxeln war einfacher, als in jenen Tagen aus dem Bett zu kommen.”
Wege aus dem Stress:
• Pilgern – Ein Weg zum Seelenheil (z.B. der Jakobsweg in Spanien)
• Eintritt in einen Sportverein
• Spiritualität – Das Selbst entdecken (Blumenbilder zaubern, Yoga, Meditation, Tanz, religiöses Engagement)
• Rückzug in die Einsamkeit auf Zeit. (Sich einfach mal für einige Tage oder Wochen an einen einsamen Ort flüchten.)
• Gute soziale Integration und Gemeinschaften. (Sich zum Beispiel auf ein Musikfestival im Sommer einlassen und hemmungslos geniessen.)
• Aussteigen – Ein ganz anderes Leben wagen.
• Sich kleine oder grosse Träume erfüllen.
TIJANA NIKOLIC