Viele Europäer sympathisieren mit dem Zuwanderungsentscheid der Schweiz. Für die EU eine unangenehme Situation
Mit ihrem Ja zur Zuwanderungsinitiative hat die Schweiz auch im europäischen Ausland eine regelrechte Lawine losgetreten. Allein auf deutschen Onlineportalen haben tausende Menschen Artikel zum Thema kommentiert. Eine Mehrheit von ihnen sympathisiert mit der SVP-Initiative, viele von ihnen verlangen gar die selben direktdemokratischen Mit-bestimmungsmöglichkeiten, wie sie die Schweiz hat.
«Respekt und Hochachtung für die einzig funktionierende Demokratie in der Welt. Hier wird keine Stimmung gemacht, das ist die Stimme des Volkes», kommentierte etwa einer von 693 Kommentarschreibern auf Bild.de. Ein anderer schreibt: «Politik muss vom Volk ausgehen und nicht von der EU!» Beim Sender WDR heisst es auf Anfrage, nach dem Auftritt von Roger Köppel in der Talksendung «Hart aber fair» seien überdurchschnittlich viele Zuschauerkommentare eingegangen. «Das Thema hat extrem polarisiert.» Wie gefährlich ist diese Bewegung für die EU?
«Das Thema Zuwanderung beschäftigt die Bevölkerung in anderen europäischen Ländern zunehmend, nationalistische Parteien wie die britische Ukip konnten in den vergangenen Jahren fast überall zulegen», so Serdült, Demokratie-Experte . Die Grundvoraussetzung dafür, dass die virtuellen Forderungen «offline», also von der Politik, aufgenommen werden könnten, seien also da. Auch Experten sagen, es sei gut möglich, dass die Idee einer Zuwanderungsbremse auch im restlichen Europa Anklang finde. Auch wenn «Onlinekommentare und Social-Media-Eruptionen von Wutbürgern» auf keinen Fall als repräsentativ anzusehen seien. «Gradmesser werden wohl die europäischen Parlamentswahlen in diesem Frühling sein», sagt Serdült. Es sei denkbar, dass zuwanderungskritische Parteien auf den Schweizer Zug aufspringen und eine ähnliche Zuwanderungsbremse fordern. Denn nationalistische Parteien scheinen nach dem Schweizer Volksentscheid Morgenluft zu wittern. Zahlreiche Exponenten gratulierten der Schweiz. Und die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen jubelte in der «Tribune de Genève»: «Die Schweiz beweist, dass es möglich ist. Sie hat mit dem Entscheid ihre Souveränität ausgedrückt!»
Es ist eine Entwicklung, die der Europäischen Union gar nicht passt. Wie wird sie darauf reagieren? Laut Serdült besteht die Möglichkeit, dass die Forderungen im Netz verebben. «In dem Fall bleibt es bei einem Sturm im Wasserglas.» Möglicherweise werde sie aber auch versuchen, eine nationalistische Kampagne zu verhindern, indem sie die Schweiz in den bevorstehenden Verhandlungen «hart anpackt». «Die EU wird Sonderwünsche nicht tolerieren», bestätigt Balsiger. «Man nimmt diese Abgrenzungs-Gelüste sehr ernst.»
Die macht der Social-Media zeigte sich bereits beim Arabischen Frühling
Ob sich ein solches Durchgreifen für die EU lohnen würde, kann Demokratie-Experte Serdült nicht sagen: «Es ist noch sehr vieles offen.» Ein Abebben der Forderungen sei genauso möglich wie eine Trotzreaktion der betreffenden Parteien. Und was, wenn sie die Bürger tatsächlich abstimmen liesse?
Für diese Variante setzt sich Michael Efler von der deutschen Organisation «Mehr Demokratie» ein. «Es wäre sinnvoll, wenn auch die Deutschen auf Bundesebene über das Thema Zuwanderung abstimmen könnten», sagt er. Für ihn sei es erfreulich, dass sich Bürger via Social Media für mehr politische Rechte stark machten. «Grundsätzlich setzen wir uns für die Möglichkeiten direkter Demokratie ein – unabhängig davon, wie die Volksentscheide ausgehen.» Einige Vorbehalte hat die Organisation denn aber doch: «Wenn eine Volksinitiative gegen Europa- oder Völkerrecht verstösst, kann sie vom Bundesverfassungsgericht für unzulässig erklärt werden.»
Dass eine Abstimmung über eine Zuwanderungsbegrenzung in anderen europäischen Ländern denselben Erfolg hätte wie in der Schweiz, will keiner von den Gesprächspartnern ausschliessen. Politikberater Mark Balsiger erstaunt die Schwemme an Kommentaren nicht. Während ein Schweizer Stimmbürger vier Mal pro Jahr an die Urne gerufen werden, könne etwa ein deutscher Bürger seine politische Meinung nur alle vier Jahre auf nationaler Ebene kundtun. «Für politikverdrossene Bürger sind die Onlinekommentare ein Ventil, um ihrem Unmut über die mangelnde Mitbestimmung Luft zu verschaffen.» Uwe Serdült, Politologe am Zentrum für Demokratie in Aarau, sagt: «Die Kraft von Social Media ist nicht zu unterschätzen.»
Die Forderung nach direktdemokratischer Mitbestimmung sei in Europa zwar nicht neu. Gerade auf Facebook und Twitter könnten die Leute aber sehr schnell mobilisiert werden. «Das beste Beispiel dafür ist der Arabische Frühling – dort fand über die Staatsgrenzen hinweg eine rasche Mobilisierung statt.»
T. N.