In über einem Dutzend Fällen entschieden sich 2017 Minderjährige dazu, Geschlechts-OPs vorzunehmen, weil sie nicht mehr Mädchen oder Buben sein wollen
«Ich habe schon früh gewusst, dass etwas nicht stimmt. Ich wollte weder Kleider anziehen noch war ich ein Fan der Farbe Pink», sagt Manuel W. (19) gegenüber 20 Minuten. Letzten Oktober, kurz nach seinem 19. Geburtstag, begann er mit der Hormontherapie. Dann ging es plötzlich schnell: «Den Stimmbruch bekam ich schon nach zwei Wochen», sagt Manuel. Und bereits im ersten Monat habe er sichtbar Muskeln zugelegt, obwohl er nichts dafür getan habe. «Das fand ich schon ziemlich cool.» Nun sei auch eine geschlechtsangleichende Operation geplant.
Hätte gerne schon früher begonnen
«Ich hätte gerne schon viel früher eine Hormontherapie und Operationen gemacht», sagt Manuel. «Jedoch habe ich meinen Eltern zunächst nichts davon gesagt. Ich dachte, sie hätten mich nicht mehr gern, würden mich nicht so akzeptieren, wie ich bin.» Seine Angst bewahrheitete sich nicht: «Sie sagten mir, sie hätten es schon immer geahnt und unterstützten mich mega, das war toll.“ Wie Manuel äussern immer mehr Kinder und Jugendliche den Wunsch nach einer Geschlechtsoperation. Bei einigen erfüllt sich der Wunsch noch vor dem 18. Geburtstag. So fanden im Jahr 2017 solche Eingriffe in vierzehn Fällen auch bei Minderjährigen statt. Bei Erwachsenen zählten die Spitäler 2017 rund 175 solcher Eingriffe. Das zeigen neueste Zahlen des Bundesamts für Statistik und der Spitaldatenbank SwissDRG.
Eine lebensrettende Entwicklung
Dass die Nachfrage nach geschlechtsangleichenden Operationen bei Minderjährigen zunimmt, bestätigt David García Núñez, Leiter des Schwerpunkts für Geschlechtervarianz am Unispital Basel. Da sich die Geschlechteridentität zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr ausbilde, würden Kinder schon sehr früh wissen, ob sie sich in ihrem Körper wohlfühlten. Da das chirurgische Team am Unispital auf Erwachsene ausgelegt sei, operiere man im Unispital Basel nur in Ausnahmefällen Minderjährige. «Die Nachfrage wäre aber da», sagt García. «Die Zahl der geschlechtsangleichenden Eingriffe ist seit langem steigend – auch bei jungen Menschen. Es handelt sich dabei nur um eine Fortsetzung eines langjährigen Trends», sagt auch Alecs Recher vom Transgender Network Switzerland. Dass minderjährigen Transmenschen heute ein gesellschaftliches und persönliches Umfeld vorfinden, dass ihnen ein Coming-out erlaubt, sei sehr positiv zu werten, sagt Recher. «Gerade mit Blick auf die extrem hohe Suizidgefährdung von Transmenschen ist das sogar eine lebensrettende Entwicklung.»
Kinder outen sich öfters, als früher
Auch der Basler Psychologe und Transgender-Experte Udo Rauchfleisch behandelt seit einigen Jahren vermehrt Kinder und Jugendliche, die sich nicht mit dem eigenen Geburtsgeschlecht identifizieren können. Die Jüngste sei mit fünf Jahren gerade erst im Kindergartenalter gewesen. «In aufgeschlossenen und offenen Familien trauen sich Kinder einfach öfter, ihren Eltern zu sagen, dass sie sich in ihrem Körper nicht wohlfühlen», sagt Rauchfleisch. Insgesamt gebe es aber nicht mehr Transmenschen als früher.
Den Kindern richtig zuhören
Nur weil ein Bub gern Röcke trage oder mit Barbies spiele, sei er noch lange nicht trans. Wenn ein Kind aber wiederholt derartige Aussagen mache, sollten Eltern hinhören, sagt Rauchfleisch: «Der ganze Prozess ist langwierig und mühsam. Das Leiden der Kinder und Jugendlichen in dieser Situation ist gross.» Um den Kindern mehr Zeit zu geben, sich Klarheit über die eigene Situation zu verschaffen, setze man bei Betroffenen bis zum 16. Lebensjahr medikamentös die Pubertät aus. «Die Entwicklung der Geschlechtsmerkmale wird von den betroffenen Kindern als extrem schlimm wahrgenommen.» Als Elternteil dagegen anzukämpfen, wie es in Familien mit einer konservativen Haltung vorkomme, mache keinen Sinn und schade dem Kind, sagt Rauchfleisch. «Das Kind verschliesst sich sonst und muss allein mit der Situation fertigwerden.
Es gibt auch andere Meinungen
Anderer Meinung ist die Ethikerin und Theologin Ruth Baumann Hölzle von der Stiftung Dialog Ethik. Sie setzt Fragezeichen bezüglich der Urteilsfähigkeit der betroffenen Kinder oder Jugendlichen. «Es ist bewiesen, dass die Pubertät bei Kindern und Jugendlichen die Urteilsfähigkeit hinsichtlich der eigenen Körperwahrnehmung einschränken kann. Hinzu kommt eine besondere Offenheit gegenüber Einflussnahmen durch Freundeskreise.»
Warten bis zum Abschluss der körperlichen und seelischen Entwicklung
Die Geschlechterorientierung sei zudem in der Pubertät öfter noch nicht eindeutig, sagt Baumann. Und: Man fühle sich gerade in der Pubertät mit all den hormonellen Entwicklungen nicht immer wohl im eigenen Körper. «Sei es die Nase, die Hände oder die Brüste: Entweder ist etwas zu lang, zu kurz, zu gross oder zu klein.» Eine Hormontherapie oder eine Geschlechtsoperation sei ein massiver Eingriff am Körper. Baumann: «Und obwohl ein solcher Prozess unter Umständen reversibel sein kann, sollten Minderjährige vor Entscheidungen geschützt werden, die sie später bereuen könnten. Warum nicht warten, bis die körperliche und seelische Entwicklung abgeschlossen ist?»
Und wie wird das bezahlt?
«Die Krankenkassen haben eine sogenannte Leistungspflicht: Wenn sich eine Person mit dem anderen Geschlecht identifiziert und eine Behandlung wünscht, muss die Krankenkasse die notwendigen Massnahmen prüfen», sagt Nina Mayer von der Krankenkasse CSS. Eine Operation zur Geschlechtsumwandlung sei allerdings erst die letzte Massnahme, die in einer langjährigen Behandlungskette erfolgt. «Damit eine Operation in Frage kommt, muss eine gesicherte Diagnose vorliegen, eine mehrjährige begleitete Psychotherapie erfolgen sowie eine Hormonbehandlung dokumentiert sein», so Mayer. Sofern sämtliche Voraussetzung erfüllt sind, übernehme die Grundversicherung einen Teil der Kosten für die operativen Massnahmen. Bei diesen Eingriffen handelt es sich immer um einen mehrtägigen Aufenthalt im Spital. Deshalb muss der Wohnkanton mindestens 55 % der Kosten bezahlen, und die Krankenkasse 45 %. Der Patient müsse sich über die Franchise, den Selbstbehalt oder den täglichen Spitalbeitrag aber ebenfalls an den Kosten beteiligen.
Tijana Nikolic