Der Chefredaktor der «Tribune de Genève» erklärt, warum in der Westschweiz nach dem Abstimmungssonntag Empörung herrscht
«Ein inakzeptabler Affront», «Eine Entgleisung zu viel!», «Eine schockierende Aussage!», «Ein widerliches Vorgehen»: Die Reaktionen auf die Aussagen von SVP-Stratege Christoph Blocher fallen in der Romandie heftig aus. Der Alt-Bundesrat hatte gegenüber Tagesanzeiger.ch/Newsnet die Ablehnung der Einwanderungsinitiative im Welschland mit folgendem Satz kommentiert: «Die Welschen hatten immer ein schwächeres Bewusstsein für die Schweiz.»
Es habe hierzulande schon immer Bürger gegeben, die sich anpassen wollten, und andere, die für die Unabhängigkeit gekämpft hätten. Dabei handelte es sich nicht um einen einmaligen verbalen Ausrutscher: In einem Interview, das im «Tages-Anzeiger» erscheinen wird, bekräftigt der Zürcher die umstrittene Aussage. Die Westschweizer fühlen sich angesichts dieser jüngsten Provokation Blochers als «Schweizer zweiter Klasse» verunglimpft.
Die beiden Tageszeitungen «Tribune de Genève» (TdG) und «Le Temps» widmen dem Thema grosse Artikel, und TdG-Chefredaktor Pierre Ruetschi schrieb für die heutige Ausgabe einen offenen Brief an Blocher. «Sie haben nicht das Identitätsmonopol der Schweiz! Mit welchem Recht bezweifeln Sie den Patriotismus der Romands?», fragt er darin den SVP-Übervater. «Wir unterscheiden uns zwar von den Nidwaldnern und den Urnern – aber wir sind genauso Schweizer wie sie.» Diese Meinung teilt die Zeitung «Le Temps»: Blocher gefährde mit seiner Aussage die Kohäsion, weil er fälschlicherweise überzeugt davon sei, er alleine verkörpere die Schweizer Werte.
Regierungsräte von Genf bis Delsberg verweisen in diesem Zusammenhang in der welschen Presse darauf, dass gerade Genf und die Waadt zu den grössten Nettobeitragszahlern des interkantonalen Finanzausgleichs gehören. Der Grund für die gesunden Haushalte und die wirtschaftliche Dynamik sei nicht zuletzt im freien Personenverkehr zu suchen. Während Exponenten unterschiedlicher Parteien deutliche Worte für Blochers Anwurf finden, halten sich SVP-Vertreter mit Kritik zurück – oder spielen die Äusserung herunter: SVP-Vizepräsident Claude-Alain Voiblet etwa meinte gegenüber «Le Temps» kryptisch, er sei nicht schockiert über die Aussage, auch wenn sie wohl unterschiedlich interpretiert werden könne.
Blochers Vorwurf reisst im Welschland auch alte Wunden auf. «Le Temps» erinnert sich an ähnliche Anfeindungen aus der Deutschschweiz. So titelte etwa die «Weltwoche» im März 2012: «Die Romands sind die Griechen der Schweiz.» Und die aktuelle Aussage komme nun just in einem Moment, in dem die welschen Kantone ohnehin den Eindruck hätten, in der Deutschschweiz nicht mehr beachtet zu werden: Die Omnipräsenz des Schweizerdeutschen in den audiovisuellen Medien und die Bevorzugung des Englischen zulasten des Französischen in der Schule werden als Offensive gegen das Französische gedeutet.
«Blochers Attacke ist unnötig, respektlos und kontraproduktiv. Wir können diesen Vorwurf nicht akzeptieren», sagt Ruetschi gegenüber Tagesanzeiger.ch/Newsnet. Nur weil die Welschen eine andere Auffassung über den Platz der Schweiz in Europa hätten, seien sie keine schlechteren Patrioten. Dagegen sei Blochers Verhalten unpatriotisch: «Ihm ging es nur darum, erneut einen politischen Kampf gegen das Establishment zu gewinnen. Ob dies die Schweiz schmerzt oder nicht, ist ihm egal. Die Folgen des Entscheids betreffen seine eigene politische und unternehmerische Zukunft nicht mehr.»
Obwohl der Volksentscheid am Sonntag mit 50,3 Prozent zugunsten der Einwanderungsinitiative äusserst knapp ausfiel, habe man sich im Welschland auf der Verliererseite bemüht, das Resultat zu akzeptieren und die Debatte um den Röstigraben nicht erneut anzuheizen, erläutert Ruetschi. Stattdessen hätten Kommentatoren und Experten rasch erkannt, dass bei dieser Vorlage schweizweit ein Stadt-Land-Graben ausschlaggebend war. «Ländliche Regionen haben einen Entscheid getroffen, dessen Folgen sie gar nicht betreffen werden», sagt Ruetschi. Dafür werde beispielsweise die wirtschaftlich prosperierende Genferseeregion die Auswirkungen zu spüren bekommen. Gerade Genf sei wegen der vielen internationalen Konzerne und Organisationen existenziell auf ausländische Arbeitskräfte und Grenzgänger angewiesen.
Daher kämen bereits jetzt Forderungen welscher Politiker auf, dass die Romandie bei der Aushandlung und Verteilung der Kontingente bevorzugt werde.
Tijana Nikolic