45 Jahre lang haben die Brüder Edmond und Jules de Goncourt ihre Zeitgenossen mit bösem Blick beobachtet und darüber Tagebuch geführt
Ein einzigartiges Fenster ins 19. Jahrhundert, weit geöffnet in einer der künstlerisch reichsten Zeitspannen überhaupt. Wer was konnte, was wollte, was galt, musste dabei sein, in Restaurants und Cafés, im Salon der Prinzessin Mathilde (Cousine des Kaisers Napoleon III.) oder bei den Goncourts zuhause. Etwa am 14. Februar 1864: «Zum Diner hatten wir Sainte-Beuve, Gautier, Flaubert, Charles Edmond und Saint-Victor und die Lagier. Man plauderte über transzendentale Tribaderie und Päderastie.» Ein bisschen gelehrt durfte es klingen, wenn die (fast ausnahmslos männlichen) Teilnehmer ins Klatschen, Renommieren und Schweinigeln gerieten. Maupassant prahlte gern, wie oft er gekonnt habe, und Flaubert behauptete, im Bordell extra immer die hässlichste genommen zu haben und sie dann vor den Augen der Freunde … nun ja, die Details sparen wir uns. Es kann nun jeder selbst entscheiden, ob und wie genau er es wissen will. Denn das «Journal» der Brüder Goncourt liegt jetzt auch auf Deutsch vor. Drei renommierte Übersetzerinnen haben neun Jahre lang an den 7000 Seiten gearbeitet. Die sehr schön gestaltete und mit einem informativen Beibuch versehene Ausgabe umfasst zehn Bände und braucht rund 35 Zentimeter Platz im Bücherregal. Ein Knabenjugendtraum sei es gewesen, schreibt Verleger Gerd Haffmans, erst mehr als 60 Jahre nach der französischen Edition konnte er realisiert werden. Edmond de Goncourt hatte zu Lebzeiten Auszüge publiziert – nur harmlose, wie er meinte. Sie reichten aber, um sich mit nahezu allen Freunden zu überwerfen.
Ausser mit Alphonse Daudet (Autor des «Tartarin de Tarascon»), der zum Testamentsvollstrecker ernannt wurde, aber selbst kurz nach Edmond starb. Seine Erben verhinderten, bis sich 1956 ein Gericht darüber hinwegsetzte, dass all die Sottisen, Bêtisen und Médisancen ans Licht der Öffentlichkeit drangen, die ihre Vorfahren und andere berühmte Geistesgrössen geäussert hatten oder deren Opfer sie waren. Denn so viel Sinn die Goncourts für das Schöne und Subtile hatten, für die Nuancen der Konversation, die Üppigkeit einer Garderobe oder eines Dekors, ihr eigentliches Interesse galt dem Fiesen und Gemeinen. Sie waren unübertrefflich im Ersinnen, Weitergeben und Aufbewahren von Schwächen, Bosheiten und Häme aller Art. Keiner ihrer Tischgenossen war davor gefeit, etwa wegen seiner schwachen Blase blossgestellt (Zola) oder als «Hanswurst» (Taine), «absolutes Nichts» (George Sand) oder «Stümper der Malerei» (Degas) bezeichnet zu werden. Oft war das eine Retourkutsche. Als Edmond hinterbracht wurde, Guy de Maupassant habe sich in einer Zeitung abfällig über ihn geäussert – solche Attacken und Gegenattacken füllten diese Blätter zu einem Gutteil –, konterte er im Journal, der Kollege verfüge nur über eine «Allerweltsschreibe». Sich selbst hielten die Goncourts für die Grössten, ihre gesuchte Prosa, den «artistischen Stil», für das Mass aller Dinge.
Keine unbedeutende Inspiration der Literatur
Und ja, so unbedeutend sind die Brüder als Autoren nicht. Sie waren die Pioniere des Naturalismus, haben das Repertoire «darstellbarer Gegenstände» erweitert, die Bahn für (den ungleich grösseren) Zola bereitet. Ihre «Germinie Lacerteux» ist der erste Roman über eine Person des «vierten Standes», und «Renée Mauperin» hat Thomas Mann für seine «Buddenbrooks» inspiriert. Noch Proust würdigt sie im letzten Band der «Recherche» einer mehrseitigen Stilparodie.
Bleibenden Ruhm aber hat den Goncourts einzig das «Journal» eingebracht. Es ist zugleich überaus lesbar und unlesbar: Welcher Berufstätige (auch der Rezensent nicht!) hätte Zeit und Lust für 7000 Seiten, von denen manche mit hässlichem Antisemitismus und alberner Misogynie gefüllt sind; für Gestalten, deren Mehrzahl eben doch längst Schall und Rauch ist? Also wird man blättern, hineinschnuppern, hängenbleiben, sich wieder lösen und anderswo neu eintauchen, einen Abend oder viele, je nach Atem, Ruhe und Gusto. Und das ist auch gut so: Das Journal, aus dem Tag entstanden, könnte auch als gelegentliche Tages- und Nachtlektüre taugen, bei der jeder Leser sein eigenes Leseprofil entwickelt. Wer seine Vorurteile gegenüber den Literaturszenen aller Zeiten bestätigen möchte, kann es hier. Wer eine pessimistische Weltsicht hat, kann sie mit den Brüdern pflegen («Jeder Tag, den man lebt, bringt einem Verachtung für seinesgleichen»). Wer Klatsch und Tratsch auch im historischen Gewand mag, wird gut bedient.
Aber auch anspruchsvollere Gemüter bleiben nicht unbefriedigt. Interessant etwa die Beobachtungen während der Belagerung von Paris durch die preussischen Truppen im Deutsch-Französischen Krieg. Erhellend die Einsichten über die Zusammenhänge von Kunst und Geld. Farbig das Anekdotische, der Wirklichkeit unmittelbar Abgelauschte, vom «Diebsgesicht» des Kaisers bis zum unglaublichen Doppelleben ihrer Dienstmagd Rose. Erschütternd der Bericht Edmonds vom Sterben seines Bruders, dem die Syphilis den Körper, den Geist und schliesslich auch die schöne Seele zerstörte (für ihn war Jules an Überanstrengung für die Kunst gestorben).
Einzigartig schliesslich diese Bruderliebe. Edmond und Jules teilten alles, die Wohnung, die Gedanken, die Produktion, selbst die Maitresse, eine füllige Hebamme namens Maria. «Niemals hat man eine Seele auf diese Weise auf zwei Körper verteilt», schreiben sie, und als Edmond allein zurück bleibt, hat er sein «einziges und ausschliessliches Glück» verloren. Der Rest ist Melancholie.