Die Menschen in der Schweiz sollen noch besser vor ansteckenden Krankheiten geschützt werden. Das Bundesamt für Gesundheit hat auf der Grundlage des neuen Epidemiengesetzes eine Nationale Strategie zu Impfungen (NSI) erarbeitet
Die Grundlage hat zum Ziel, das Engagement aller Akteure zu fördern, die Bevölkerung fundiert über den Nutzen von Impfungen zu informieren und ein gutes Impfangebot zu gewährleisten. Der Strategieentwurf geht nun in die Anhörung. Die Strategie hat drei Schwerpunkte: Die Akteure werden aufgerufen, sich für das Impfen zu engagieren. Für die Bevölkerung sollen fundierte und zielgerichtete Impf-Informationen zur Verfügung stehen, damit jede und jeder Einzelne selbstverantwortlich über die empfohlenen Impfungen entscheiden kann. Schliesslich soll das Impfangebot einfach zugänglich sein. Damit soll der Impfschutz in der Bevölkerung weiter erhöht und die Zahl der vermeidbaren Erkrankungen, medizinischen Komplikationen und Todesfälle reduziert werden. Impfungen gehören zu den wirksamsten Mitteln, um sich gegen schwere Krankheiten wie Diphterie, Starrkrampf, Kinderlähmung oder Masern zu schützen. Dank guter Impfstoffe und einer hohen Impfquote sind manche Krankheiten stark zurückgegangen oder gar verschwunden. Mit der nationalen Impfstrategie soll der Schutz der Bevölkerung weiter verbessert werden – besonders bei den vulnerablen Gruppen. Ein hoher Gesundheitsschutz ist eines der Ziele der bundesrätlichen Strategie Gesundheit2020.
Die Sondierungen zur NSI begannen bereits 2011/2012. Damals zeigte ein Vorprojekt, dass das Impfsystem in der Schweiz zwar wichtige Errungenschaften aufweist, wie zum Beispiel die hohe Sicherheit der Impfstoffe und die Klarheit der nationalen Impfpläne. Zugleich traten aber auch Schwachstellen zutage.
Stärkung des Verantwortungsbewusstseins
Zur Erreichung der Ziele braucht es ein breites Spektrum an Maßnahmen. Dieses lässt sich in fünf Gruppen unterteilen. Die erste, „Stärkung des Verantwortungsbewusstseins und Unterstützung der Akteure” umfasst beispielsweise Verbesserungen beim schweizerischen Impfplan, bei dessen Erarbeitung ebenso wie bei der Präsentation. Die zweite Gruppe, „Kommunikation und Angebote für die Bevölkerung” beinhaltet unter anderem den erleichterten Zugang zu Impfangeboten. Bei der dritten Gruppe, „Ausbildung und Koordination”, stehen die Gesundheitsfachpersonen und der Erfahrungsaustausch zwischen den Kantonen im Zentrum. Themen der vierten Gruppe, „Überwachung, Forschung und Evaluation”, sind etwa die Durchimpfung sowie Wirkungsanalysen. In der letzten Gruppe geht es um „Spezifische Strategien” für Krankheiten, welche sich durch eine Impfung vermeiden lassen. Die eigentliche Arbeit an der Strategie hat Ende 2012 begonnen. In der Folge fanden drei Workshops statt. Daran nahmen über 30 Fachpersonen und Repräsentanten der Hauptakteure teil, um den Handlungsbedarf, die Ziele und die vorrangigen Maßnahmen zu klären. Auf dieser Grundlage entstand ein erster Entwurf, der im Juni 2015 Gegenstand eines vierten Workshops war. Nun sind alle betroffenen Kreise eingeladen, bis am 6. Juli 2016 ihre Stellungnahme über den Strategieentwurf abzugeben. Ende 2016 ist die Verabschiedung der NSI durch den Bundesrat geplant, damit im 2017 die Umsetzung beginnen kann.
Die Nationale Strategie zu Impfungen sieht die Zusammenarbeit von Bund, Kantonen und weiteren Partnern vor und ist eng mit der Strategie gegen Antibiotikaresistenzen (StAR) abgestimmt. Denn je mehr Krankheiten dank Impfung verhindert werden können, desto weniger Antibiotika müssen zur Heilung eingesetzt werden. Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) hat die Strategie bis am 6. Juli 2016 in die Anhörung geschickt. Der Bundesrat wird voraussichtlich Ende 2016 über die Strategie entscheiden.
Bevölkerung regiert aus Angst unverhältnismässig
Wegen Druck am Arbeitsplatz oder Ungeduld verlangen viele Patienten unnötig Antibioti-ka. Dabei droht eine Resistenz, die tödlich enden kann. Ob Grippe oder Bronchitis: Viele Ärzte verschreiben unnötig Antibiotika, weil Patienten dies vermehrt verlangen. Die Patienten würden sich nicht ernst genommen fühlen, wenn sie kein Antibiotika erhielten, sagt Infektiologe Jean-Philippe Chave zu «24 heures». «Ich weiss von Ärzten, die nur Antibiotika verschrieben, um den Patienten nicht zu verlieren.» Die Ärzte stünden oft unter Zeitdruck, so dass viele lieber Antibiotika herausgeben würden, statt sich zeitraubenden Diskussionen mit den Patienten zu stellen. «Vor allem die älteren Ärzte sind oft wenig auf die Risiken sensibilisiert und verschreiben zu oft unnötig Antibiotika.»
Angst krank zu werden
Neben dem Druck am Arbeitsplatz sei auch der neue Körperkult schuld an der häufigen Verwendung von Antibiotika. «Heute will jeder immer topfit sein und keine Session im Fitnesscenter verpassen, da liegt es nicht drin, eine Woche lang krank im Bett zu liegen.» Vor allem ältere Ärzte würden Antibiotika als Allheilmittel einsetzen, jüngere seien vorsichtiger. Auch gemäss dem Verband der Haus- und Kinderärzte werden Antibiotika oft falsch verschrieben. «Studien haben gezeigt, dass Ärzte zu viele Fehler beim Verschreiben von Antibiotika machen, beispielsweise indem sie diese gegen virale Infektionen einsetzen oder sie nicht in der korrekten Dosierung verschreiben», schreibt der Verband.
«Viele Leute sind am Arbeitsplatz stark unter Druck, wollen sich keinen Krankheitsausfall erlauben. Auch Arbeitgeber erwarten immer mehr, dass Leute schnell wieder fit sind», sagt Margrit Kessler, Präsidentin der Stiftung SPO Patientenschutz. Daher würden viele Kranke verlangen, dass der Arzt ein Antibiotikum verordnet statt die Krankheit auszusitzen oder die Laborbefunde abzuwarten. Gerade während der Grippezeit würden vermehrt Antibiotika konsumiert. «Die Patienten haben oft keine Ahnung, dass ein Antibiotikum gegen ein Grippe-Virus nichts nützt und sie erst noch Gefahr laufen, bei den Keimen eine Antibiotika-Resistenz aufzubauen.» Für Immunologe Beda Stadler haben die Jungen heute den Respekt vor der Krankheit und der Medizin verloren. «Es wird völlig bedenkenlos zu Antibiotika gegriffen, ohne sich über die Nebenwirkungen Gedanken zu machen.» Es herrsche ein blindes Vertrauen in die Medizin. «Als ich jung war, war eine Lungenentzündung noch ein lebensbedrohliches Risiko, heutzutage steckt man das locker weg.»
Antibiotika-resistenten Bakterien
Der Trend hat Folgen, denn durch die verbreitete Anwendung werden die Bakterien resistent gegen die Antibiotika. Wer sich mit einem solchen resistenten Keim ansteckt, kann schon an einer einfachen Lungenentzündung, Infektion oder Blutvergiftung sterben. 25’000 solche Fälle gibt es jährlich in der EU. Auch in der Schweiz sterben jedes Jahr hunderte Menschen, weil sie von Antibiotika-resistenten Bakterien angegriffen worden sind, gegen die es keine Medikamente mehr gibt. Die Tendenz ist laut der Eidgenössischen Fachkommission für biologische Sicherheit steigend. Der Bund hat Ende letzten Jahres gar eine «Strategie Antibiotikaresistenzen» ins Leben gerufen. Eine mögliche Waffe gegen die multiresistenten Keime ist laut Infektiologe Chave die Phagentherapie, die nach dem Aufkommen der Antibiotika weniger zur Anwendung kam, in den Ostblockstaaten aber Mangels Antibiotika weiterhin praktiziert wurde. Dabei werden Bakeriophagen – also Viren, die nur Bakterien angreifen – im Körper ausgesetzt. Diese wirkten auch gegen multiresistente Keime und könnten gute von schlechten Bakterien unterscheiden. Die Phagentherapie sei ein «vielversprechender Weg».
Tijana Nikolic
foto: Ansa