Laut Experten macht Pendeln sogar asozial. Denn nach einer langen Heimfahrt haben die wenigsten Leute noch Lust etwas mit Freunden zu unternehmen
Zahlen aus der Schweiz belegen, dass jeder zehnte Arbeitnehmer täglich länger als eine Stunde unterwegs ist – und die Distanzen werden immer länger. Während 2000 der durchschnittliche Pendler noch 12,9 Kilometer zurücklegte, waren es 2012 schon 14,3 Kilometer. «Das Problem ist, dass Pendler die psychologischen Kosten ihres Arbeitsweges unterschätzen», sagt Bruno S. Frey, Wirtschaftsprofessor an der Universität in Zürich. Zwar würden sie sich überlegen, dass sie in ländlichen Gebieten für einen tieferen Betrag schöner wohnen könnten. «Auch freuen sie sich über das höhere Salär in der Stadt.» Bei der Gesamtbetrachtung unterlaufe ihnen aber ein systematischer Fehler. «Sie rechnen nicht mit dem Zeitverlust für Freunde und Familie.» Die schöne Wohnung und der grössere Betrag auf dem Konto seien sofort, die Auswirkungen für das eigene Umfeld aber erst in Zukunft sichtbar.
So wie Kathrin geht es vielen
Wenn Kathrin am Abend den Zug in Frauenfeld verlässt, ist die junge Frau müde – und sie fühlt sich verschwitzt. Tagtäglich pendelt die Frau von der Ostschweiz nach Zürich. Eine gute Stunde dauert der Weg von Tür zu Tür. Wenn sie abends nach einem langen Bürotag nach Hause kommt, sehnt sie sich nach einer Dusche und danach, die Füsse hochzulegen. Um sich noch mit Freunden zu treffen, dafür ist die junge Frau viel zu erschöpft. So wie Kathrin geht es vielen Pendlern. 3,7 Millionen Menschen sind in der Schweiz Tag für Tag wegen ihrer Arbeit unterwegs. 70 Prozent verlassen laut Zahlen des Bundesamts für Statistik dazu ihren Wohnort. Nicht ohne Folgen: «Pendeln beansprucht Zeit und Energie. Beides fehlt dann, um soziale Beziehungen zu pflegen», sagt Politologe Markus Freitag im «Tagesanzeiger». Pendler wünschten sich am Abend vor allem Ruhe und würden seltener noch einmal rausgehen. «Deswegen fällt ihnen die soziale Verwurzelung am Wohnort viel schwerer» so Freitag. Das Engagement in Vereinen oder mit Freunden berge ein gewisses Verpflichtungspotenzial. «Dieses können Pendler oft nicht einhalten.»
Dies bestätigt auch der Wirtschaftsprofessor Bruno S. Frey von der Universität Zürich. In Deutschland hat er über eine Zeit von 15 Jahren Befragungen analysiert und festgestellt, dass Pendler einsamer und unglücklicher sind: «Wenn man keine Zeit hat, seine Freundschaften zu pflegen, dann verliert man sie.» Das soziale Umfeld wiederum wirke sich direkt auf die Lebenszufriedenheit aus, sagt Frey. «Jemand, der täglich mehr als dreiviertel Stunden pendelt, ist weniger glücklich als jemand, der weniger oder gar nicht pendelt.» Je länger der Weg, desto akuter ist dieses Problem, meint auch der Verkehrspsychologe Urs Gerber. «Schon ab 30 Minuten wird es für die meisten Pendler mühsam.» Um das Dilemma zu lösen, braucht es für den Ökonomen darum Anstrengungen auf verschiedenen Ebenen. «Politisch sind Massnahmen gefordert, die es den Menschen ermöglichen, näher bei ihrer Arbeit zu wohnen» – etwa durch verdichtetes Bauen. «Wirtschaftlich sind flexiblere Arbeitszeiten gefragt.» Und: «Auch jeder Pendler muss sich selbst an der Nase nehmen.» Laut Frey wird beispielsweise die Mittagspause unterschätzt: «Die meisten Arbeitnehmer gehen mit ihren Kollegen schnell unverbindlich etwas essen, statt diese Zeit aktiv zur Pflege von Freundschaften zu nutzen.»
Doch auch die Zeit im Zug muss laut Verkehrspsychologe Urs Gerber keine verlorene sein: «Freunde von mir haben sich im Zug verabredet und sich für den Weg beispielsweise einen Spanischlehrer genommen.» Und wer nicht Spanisch lernen wolle, «der soll Freunde anrufen, die Power-Point-Präsentation fertig machen oder meditieren».