Jeder vierte Straftäter, der in einem Schweizer Gefängnis einsitzt, ist ein Risikotäter. Dies schätzen die Experten des Bundesamts für Justiz (BJ) in einem gestern vom Bundesrat veröffentlichten Bericht
Um die rund 1000 wegen schwerer Delikte wie beispielsweise Mord, Vergewaltigung oder Raub verurteilten oder psychisch gestörten Straftäter zu betreuen und deren künftiges Verhalten einzuschätzen, fehle es an gut ausgebildetem Personal. Ein «Professionalisierungsschub» sei nötig. Das ist brisant: Denn das Verhalten dieser Tätergruppe habe eine hohe Relevanz für die öffentliche Sicherheit, heisst es im Bericht. «Fehler bei der Einschätzung und/oder der Behandlung sowie blinde Flecken können schwerwiegende Folgen haben.» Für den Bericht liess der Bundesrat die Kantone befragen und verschiedene Administrativuntersuchungen – unter anderem jene zu den Tötungsdelikten «Lucie», «Adeline» und «Marie» – analysieren. Nun sollen die für den Strafvollzug zuständigen Kantone handeln: Der Bericht empfiehlt der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) eine «umfassende Strategie zum Umgang mit Risikotätern». Walter Troxler, Chef Fachbereich Straf- und Massnahmenvollzug im BJ, erklärt, was das bei der Ausbildung der Fachleute im Justizvollzug heissen könnte: Einerseits brauche es mehr forensische Psychiater, die Gutachten über die Gefährlichkeit der Täter erstellten. Weiter verfügten verschiedene kantonale Vollzugsämter über zu wenig gut ausgebildetes Personal.
Diese Ämter vollziehen die von den Gerichten angeordneten Freiheitsstrafen oder sind für die Reintegration der Straftäter zuständig. Dafür geben sie Gutachten über die Täter in Auftrag und nutzen diese als Entscheidungsgrundlagen. Der Bericht macht keine Angaben darüber, wie viele Fachleute den Kantonen zurzeit fehlen. Die Kantone sollten nun gemeinsam Anforderungsprofile für Gutachter, Therapeuten oder Bewährungshelfer erstellen, erklärt Troxler. Dann könnten zum Beispiel die Fachhochschulen oder auch das Schweizerische Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal entsprechende Aus- oder Weiterbildungen anbieten. Eine weitere Herausforderung ortet der Bericht beim stark angestiegenen Interesse der Medien und der Politik am Umgang mit gefährlichen Straftätern. «Heute gehört es auch dazu, angemessen zu kommunizieren», sagt Troxler. Für KKJPD-Vizepräsident Beat Villiger sind die Empfehlungen zum Umgang mit Risikostraftätern nicht neu: «Wir sind uns bewusst, dass wir etwas tun müssen – vor allem bei der Koordination zwischen den Kantonen», sagt der Zuger Sicherheitsdirektor. Nun müsse man den Bericht aber genau analysieren.
Grundsätzlich funktioniere der Strafvollzug in der Schweiz gut, sagt er. Es sei nur den wenigsten bewusst, dass der Strafvollzug in den letzten Jahren härter geworden sei. Die Zahlen im Bericht geben Villiger recht: 2008 wurden noch fast 75 Prozent der Häftlinge bedingt entlassen. 2012 waren es noch 65 Prozent. Nicht zuletzt der Druck der Öffentlichkeit führe dazu, dass man die Straftäter länger im Gefängnis behalte, sagt Villiger. Die Folge seien überfüllte Gefängnisse und steigende Kosten. Nachhaltige Veränderungen im Strafvollzug müssten langfristig und sorgfältig aufgegleist werden. Auslöser des Berichts über den Straf- und Massnahmenvollzug war ein Postulat von CVP-Nationalrätin Viola Amherd. Diese sieht nun «alle von der CVP bereits georteten Probleme bestätigt». Mit den Schlussfolgerungen des Bundesrats ist sie aber nicht zufrieden. Denn dieser beschränkt sich auf Empfehlungen an die Kantone. Die im Parlament wiederholt geforderte Schaffung eines Bundesgesetzes über den Straf- und Massnahmenvollzug sei nicht zwingend und würde keine Probleme beheben, schreibt der Bundesrat. Amherd ist anderer Meinung. Sie hat bereits verschiedene Vorstösse eingereicht, die einheitliche Regeln für den Strafvollzug in allen Kantonen fordern.