Der steigende Konsum von starken Medikamenten in der Schweiz beunruhigt die Experten
Opiate können Schmerzen lindern, aber auch als Drogen missbraucht werden. In den vergangenen Jahren verschrieben Ärzte immer mehr starke, opiathaltige Schmerzmittel. Vor fünf Jahren waren es noch 1,37 Millionen Packungen, letztes Jahr wurden bereits 290’000 Rezepte mehr eingelöst. Beim Schmerzkiller Tapentadol hat sich der Verbrauch laut Swissmedic zwischen 2012 und 2014 sogar mehr als verdreifacht. Opiate bergen ein erhebliches Suchtpotenzial. Boris Quednow, Pharmakopsychologe an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, sagt: «Opiatschmerzmittel sorgen für ein Wohlgefühl, mildern Angstzustände und kapseln die Konsumenten von einer als vielleicht bedrohlich empfundenen Aussenwelt ab.» Laut Studien sind bis zu 10 Prozent der mit Opioiden behandelten Schmerzpatienten von einem Suchtrisiko betroffen. «Werden opiathaltige Schmerzmittel zu lange oder in zu hoher Dosierung verschrieben, besteht die Gefahr einer Abhängigkeit», so Quednow.
Schmerzkiller im Darknet problemlos erhältlich
In der schweizweit ersten Studie untersucht Quednow die Folgen des Konsums von Opiatschmerzmitteln. Er beobachtet zum Beispiel Personen, die bereits mit Codein – oft eingenommen durch Hustensaft – experimentieren und nun auf Opioide umsteigen. Und dann gebe es noch jene, die nicht mehr beim Arzt um ein Rezept bitten wollen und sich die Schmerzmittel direkt im Internet bestellen. Die Schmerzkiller seien im Darknet oder auf dem Schwarzmarkt problemlos erhältlich. Dass sie bereits in ein Suchtverhalten reingerutscht sind, sei vielen nicht bewusst, erklärt Quednow: «Unsere Gesellschaft stellt sich ja unter Opiatabhängigen Junkies vor, die sich in der Gosse eine Nadel setzen, nicht solche, die täglich Schmerztabletten schlucken.» Dies zeigen auch Einträge in einem Schweizer Drogenforum. Ein Nutzer fragt dort: «Ich bin seit zwei Monaten Schmerzpatient und nehme alle vier Stunden 20 mg Oxycodon. Kann ich zwischendurch etwas Oxy-Pulver aus der anderen Kapsel schlucken? Würde gern (wenn ich Musik produziere) öfters ‘ne Euphorie merken.» Laut einer nationalen Umfrage von Sucht Schweiz bei 20-jährigen Männern haben 6,5 Prozent der Befragten im letzten Jahr ein Opiatschmerzmittel konsumiert – ohne Rezept. Für Frank Zobel, Vizedirektor von Sucht Schweiz, eine beunruhigende Tendenz: «In einer älter werdenden Gesellschaft nimmt der Markt für Schmerzmittel tendenziell zu, womit solche Medikamente auch ohne Rezept in die Hände von Jugendlichen gelangen können.» Ein anderes Problem ist, dass einige Ärzte zu schnell opiathaltige Schmerzmittel verschreiben. «Einige Ärzte machen es sich zu einfach, weil sie denken, es sei ja nur für einige Tage, und weil die meisten Patienten gut darauf ansprechen», sagt Roberto Pirrotta, Arzt am Zentrum für Suchtmedizin in Zürich.
300 Verdachtsmeldungen auf Vergiftungen
Bei exzessivem Konsum von Opiatschmerzmitteln droht dasselbe Schicksal wie bei einer Überdosis Heroin. Das Atemzentrum im Hirn wird gedämpft, wodurch die Atmung immer weiter verlangsamt wird – bis sie schliesslich ganz aussetzt. Die Zahl der Vergiftungen mit Schmerzmitteln ist in den letzten Jahren in der Schweiz gestiegen. Bei Tox Info Suisse haben sich die Anfragen innert zehn Jahren verdoppelt, letztes Jahr sind 300 Meldungen mit Verdacht auf eine Vergiftung mit Opiatschmerzmitteln eingegangen. Christine Rauber-Lüthy von Tox Info Suisse rät bei einer Überdosis, sofort das Spital aufzusuchen: «Es zählt jede Minute, weil die Lähmung des Atemzentrums rasch zum Tod führen kann, wenn nicht rechtzeitig ein Gegenmittel verabreicht wird.» In den USA hat die Zahl der Todesfälle durch den Missbrauch opiathaltiger Schmerzmittel rasant zugenommen – in den Epizentren ist bereits jeder dritte Drogentote ein Opfer des Opiatschmerzmittel-Missbrauchs. Frank Zobel warnt: «Wir müssen auch in der Schweiz genau hinschauen, um einer Epidemie wie in den USA so früh wie möglich entgegenzutreten.»