Die IV und andere Sozialversicherungen sollen bei einem begründeten Verdacht wieder Detektive einsetzen dürfen. Weil ein Komitee um Schriftstellerin Sibylle Berg, Menschenrechtsanwalt Philip
Stolkin und Student Dimitri Rougy das Referendum gegen das Gesetz ergriffen haben, kommt es am 25. November vors Volk
Die Vorlage sieht vor, dass Sozialversicherungsdetektive Ton- und Bildaufnahmen machen dürfen, solange sie sich an einem öffentlich zugänglichen Ort befinden. Die Ortung von verdächtigen Versicherten etwa mit einem GPS-Tracker müsste von einem Richter genehmigt werden. Am Montag haben die Gegner ihren Abstimmungskampf gestartet. Und in den sozialen Medien tobt bereits der Kampf um die besseren Argumente.
Filmen in die Wohnung
Der «Schlüsselloch-Paragraph» erlaubt neu die Überwachung von frei einsehbaren Privaträumen wie Gärten, Balkonen oder Schlafzimmern. Man kann so selbst im (Ehe-)bett bespitzelt werden, wenn keine Vorhänge gezogen sind. Laut Rechtsanwalt Philip Stolkin sind Observationen an Orten erlaubt, die nicht allgemein zugänglich sind, aber von einem solchen Ort aus frei einsehbar sind. «Folgerichtig sind also nicht einmal Wohn- oder Schlafzimmer vor einer Überwachung geschützt.»
Nur «allgemein zugängliche Orte» erlaubt
Ein Detektiv darf einen frei einsehbaren Garten oder Balkon von einem «allgemein zugänglichen Ort aus» beobachten. Aufnahmen vom Innenraum eines Hauses wären dagegen nicht möglich, da dieser zur «geschützten Privatsphäre» zählt. Das zeigt die Rechtsprechung des Bundesgerichts. «Der Blick in Wohn- und Schlafzimmer, Waschküche und Treppenhaus bleibt bei der Bekämpfung des Sozialversicherungs-missbrauchs also verboten», sagt Sprecherin Sabrina Gasser.
Überwachung mit Drohnen
Eine Drohne dürfte in den fünften Stock fliegen und in eine Wohnung filmen. Die Luftsäule über dem allgemein zugänglichen Raum gehört auch zum öffentlichen Raum. Deshalb könnte eine Drohne im fünften Stock filmen, behaupten viele Gegner. Die Behauptung ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Mit einer Drohne dürfen keine Aufnahmen gemacht werden. Aufnahmen in die Wohnung sind nicht gestattet. Zudem befindet sich eine Drohne im Luftraum. Das ist «kein allgemein zugänglicher Ort», wie es der Observationsartikel ausdrücklich verlangt.
Macht der Versicherungen
Gegner meinen, Versicherungen erhalten mehr Kompetenzen als die Polizei und die Staatsanwaltschaft im Kampf gegen Terrorismus und Verbrechen. So dürfen die Strafverfolgungsbehörden laut Anwalt Philip Stolkin bei Verdacht auf Sozialversicherungs-missbrauch keine technischen Geräte zur Überwachung einsetzen. Diese Beschränkung hätten die Detektive nicht. Zudem dürften diese anders als die Polizei in Privaträume filmen. «Es ist nicht einzusehen, weshalb ein allfälliger Missbrauch nicht der Polizei überlassen bleibt. Diese kann das nach rechtsstaatlichen Grundsätzen tun», sagt Stolkin.
Solche Mittel nur im Kampf gegen Terrorismus erlaubt
Im Kampf gegen Verbrechen und Terrorismus dürfen auch die Polizei, die Staatsanwaltschaft und der Nachrichtendienst Observationen durchführen lassen und dabei Bild- und Tonaufnahmen machen. Die Genehmigung eines Gerichts ist dafür nicht erforderlich. Die Strafverfolgungsbehörden hätten auch künftig mehr Mittel als die Sozialversicherungen: «Im Kampf gegen Verbrechen und Terrorismus dürfen Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendienst auch für Bild- und Tonaufnahmen technische Instrumente wie Wärmebildkameras oder Nachtsichtgeräte einsetzen, den Fernmeldeverkehr überwachen und in Computersysteme eindringen», sagt Gasser. Die Sozialversicherungen dürften keine derartigen Mittel einsetzen.
Überwachung mit Richtmikrofonen
Versicherungen dürften auch Richtmikrofone, Wärmebildkameras und Nachtsichtgeräte einsetzen. Während es für den Einsatz von technischen Hilfsmitteln zur Standortbestimmung eine richterliche Bewilligung braucht, dürfen «andere technische Gerätschaften unbeschränkt eingesetzt werden», sagt Anwalt Stolkin. Dem Wortlaut des Gesetzes könne keine Einschränkung für Richtmikrofone und Co. entnommen werden. Das Bundesamt ist jedoch anderer Meinung:Technische Geräte, die das menschliche Wahrnehmungsvermögen wesentlich verstärken, dürfen nicht eingesetzt werden. Erlaubt sind nur Geräte, die das aufzeichnen, was von blossem Auge oder Ohr wahrgenommen werden kann. Der Einsatz von Richtmikrofonen, Wärmebildkameras und Nachtsichtgeräten ist somit ausgeschlossen. Das ergibt sich laut dem Bundesamt aus dem Gesetzestext, aus der Gesetzessystematik und aus den Materialien wie der Botschaft des Bundesrats.
Dauer der Überwachung
Gegner sind sich sicher: Jeder Bürger kann bis zu einem Jahr lang überwacht werden. Nur die Versicherung entscheidet darüber, wer wie lange und warum überwacht wird. Laut dem Bundesamt aber darf eine verdächtige Person darf an maximal 30 Tagen observiert werden. Diese 30 Tage müssen innerhalb von sechs Monaten liegen, bei hinreichenden Gründen innerhalb von maximal zwölf Monaten. Zudem: Nicht «jeder Bürger» darf observiert werden. Observationen dürfen aber nur dann durchgeführt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen unrechtmässigen Leistungsbezug vorliegen.
Interessen der Versicherung
Die neue Gesetzesgrundlage berücksichtigt nur die Interessen der Versicherungslobby. «Nur die Versicherungen entscheiden über Wohl und Wehe der Überwachung», sagt Anwalt Stolkin. Im Gesetz bestehen kaum ernstzunehmende Hürden für eine Überwachung. Die neue gesetzliche Grundlage für Observationen übernimmt die bisherige Praxis der Versicherungen, verbessert aber die Stellung der observierten Personen erheblich, versicher das Bundesamt. Bisher mussten die Versicherungen die observierten Personen nicht über eine erfolgte Beobachtung informieren. Das wird neu in jedem Fall geschehen, sodass jede observierte Person die Möglichkeit haben wird, die Rechtmässigkeit der Observation von einem Gericht überprüfen zu lassen.
Ersparnis für Versicherungen
Das Gesetz hat einen sogenannten «chilling effect» und schreckt die Menschen davon ab, ihre Leistungen einzufordern – auch solche, die es bitter nötig hätten. Wir zahlen also alle unsere Beiträge und müssen befürchten, dass wenn der Risikofall eintritt, wenn wir also durch einen Unfall verletzt sind oder krank werden, wir auch noch unsere Privatsphäre opfern müssen, klagen die Gegner.
Observation nur bei konkreten Anhaltspunkten erlaubt
Eine Observation ist jedoch nur erlaubt, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen unrechtmässigen Leistungsbezug vorhanden sind und wenn «die Abklärungen sonst aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden». Es ist nicht ersichtlich, wie das dazu führen soll, dass eine versicherte Person einen rechtmässigen Anspruch auf Leistungen nicht geltend macht. Die Sozialversicherungen führen Observationen auch nicht in erster Linie durch, um Geld zu sparen, sondern um die Rechtmässigkeit des Leistungsbezugs zweifelsfrei abklären zu können. Sie sind dazu gesetzlich verpflichtet. Der unrechtmässige Bezug von Leistungen schädigt die Versichertengemeinschaft und untergräbt das Vertrauen in die Sozialversicherungen.
Tijana Nikolic