In der Schweiz ist das Risiko, dass sich Wunden nach einer Operation infizieren, höher als in der EU
Zu diesem Schluss kommt der Bundesrat. So ist es in seiner Antwort auf eine Frage von SP-Nationalrat Thomas Hardegger zu lesen, wie die «Schweiz am Sonntag» berichtet. Der Bundesrat berief sich dabei auf Zahlen, die Swissnoso erhoben hat. Diese misst für den Verein von Schweizer Spitälern und Kliniken Anq die Anzahl Infektionen nach Eingriffen im Spital. Swissnoso hat die Schweizer Spitäler in einer Studie einem internationalen Vergleich unterzogen. Darin schneidet die Schweiz schlecht ab. Mit anderen Worten: Die Infektionsraten liegen nach vielen Operationen über dem Schnitt von acht EU-Staaten. So kam es in der Schweiz nach Eingriffen am Dickdarm in 12,8 Prozent der Fälle zu Infektionen. In der EU sind es hingegen 9,7 Prozent aller Fälle. Auch bei Herzoperationen liegt die Rate über dem Schnitt: In hiesigen Spitälern leiden 5,4 Prozent an einer postoperativen Entzündung in der EU sind es nur 3,3 Prozent. Rund 600 Todesfälle und 15’000 Infektionserkrankungen könnte man jedes Jahr vermeiden, wenn in Operationssälen minimale hygienische Standards eingehalten würden. Das erklärt Swissnoso, eine Gruppe von leitenden Hygiene- und Infektionsspezialisten, welche Spitalinfektionen seit 1994 zu bekämpfen versucht. Doch mit unverbindlichen Richtlinien und Empfehlungen wie «systematisches Händewaschen» und «Checkliste durchgehen» ist es dieser Organisation bisher nicht gelungen, die vermeidbaren Todes- und Krankheitsfälle genügend zu reduzieren. Eine Studie zeigte, dass die Hände nur in etwa sechzig Prozent der gebotenen Gelegenheiten desinfiziert werden, wobei das Pflegepersonal pflichtbewusster war als die Ärzte. Punktuelle Fortschritte sind zwar in einzelnen Spitälern zu verzeichnen: Mit einem konsequenten Präventionsprogramm ist es der Intensivstation des Universitätsspitals Lausanne (CHUV) gelungen, die Zahl der Infektionen zu halbieren. Doch insgesamt hapert es mit der Hygienequalität in Schweizer Spitälern noch gewaltig. Deshalb will das Bundesamt für Gesundheit nach Aussage von Manfred Langenegger, Projektleiter Qualitätssicherung im BAG, ab 2015 mit Swissnoso ein nationales Qualitätsprogramm starten, um die Zahl der Wundinfektionen «wesentlich und nachhaltig zu senken».
Dachverband glaubt nicht an schlechte Ergebnisse
Hardegger erstaunt das nicht: «Das war zu erwarten. Andere Länder nehmen Ihre Spitäler viel stärker in die Pflicht. In der Schweiz hingegen haben wir unsinnige Anreize», so der Nationalrat zur «Schweiz am Sonntag». In Deutschland herrsche ein sehr strenges Hygiene-Gesetz und in Frankreich müssten Spitäler zahlen, wenn sie hohe Infektionsraten ausweisen. Anders in der Schweiz: Müssten sich Patienten wegen einer Spitalinfektion behandeln lassen, würden die Spitäler die Leistung gar zusätzlich verrechnen. Der Dachverband der Schweizerischen Patientenstellen glaubt nicht daran, dass die Schweiz im Ländervergleich schlecht da steht. «Wir kontrollieren gründlicher und kommen so auf höhere Raten», so Hygiene-Expertin Corinne Stutz zur Zeitung. Sie stimmt dennoch bei, dass sich die Schweiz verbessern müsse. Denn viele Infektionen könnten vermieden werden, sagt sie. Dazu ist es höchste Zeit, zeigen doch Vergleichszahlen von Swissnoso, dass die Schweiz im Vergleich zu Ländern der EU und zu den USA nicht einmal die durchschnittliche Qualität erreicht. Besonders schlecht sieht es bei Operationen an Dickdarm oder Enddarm aus: In der Schweiz erleidet jeder achte Patient eine Infektion, während es in Deutschland nur jeder elfte ist, in Frankreich jeder dreizehnte und in den USA jeder sechzehnte. Bei den insgesamt rund 9700 Darmoperationen pro Jahr käme es zu fast 400 Infektionen weniger, wenn die Behandlungsqualität in der Schweiz so gut wäre wie in Deutschland, und sogar zu fast 500 weniger, wenn die Qualität auf dem Niveau französischer Spitäler wäre. Bei diesen Werten handle es sich um eine «robuste statistische Aussage», schreibt Swissnoso und hält fest, dass die Infektionsrate nach Darmeingriffen in der Schweiz «vergleichsweise hoch» ist.
Resistente Antibiotika bereiten Kopfschmerzen
Auch nach dem Einsetzen von Kniegelenk- und Hüftgelenk-Prothesen ist die Infektionsrate in der Schweiz merklich höher als im Durchschnitt der EU. Wären die Infektionen nach Hüft- oder Kniegelenk-Operationen bei uns so selten wie beispielsweise in Grossbritannien, könnten in der Schweiz jährlich über 300 Infektionsfälle vermieden werden. Infektionen bereiten ÄRZTEN und Betroffenen zunehmend Kopfzerbrechen, weil es immer mehr Keime gibt, die gegen Antibiotika resistent sind. Die Vergleichsstudie hatte Swissnoso im Auftrag des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern ANQ durchgeführt. Der ANQ wird von den Kantonen, dem Spitalverband H+ und dem Krankenassenverband Santésuisse finanziert. An einer Medienkonferenz im August verbreitete der ANQ LEDIGLICH Argumente, die das schlechte Abschneiden der SCHWEIZ relativieren sollten. Die Schweiz schneide vor allem deshalb schlecht ab, weil sie Infektionen, die erst nach dem Spitalaustritt auftreten, viel gründlicher erfasse. Swissnoso schreibt allerdings selber, dass die angewandte «Methode weitgehend identisch und somit vergleichbar mit andern nationalen Erfassungsprogrammen» war. Bei den Bypass-Operationen jedenfalls muss die Erfassung von Infektionen erst nach Spitalaustritt etwa gleich gut erfolgt sein. Denn in Deutschland und der Schweiz traten fast 60 Prozent der Wundinfektionen erst im Laufe eines Jahres nach der Operation auf. Doch bei uns kam es bei einem von neunzehn Patienten zu einer postoperativen Infektion, in Deutschland nur bei einem von vierunddreissig. Der ANQ verschwieg Faktoren, welche die Schweizer Zahlen noch schlechter aussehen lassen könnten. Erstens hatte die Hälfte aller Spitäler nicht mitgemacht, darunter vermutlich solche, welche ein schlechtes Abschneiden befürchteten. Und zweitens haben selbst die teilnehmenden Spitäler DATEN zu einzelnen Operationen verweigert, möglicherweise zu solchen, bei denen sie ein schlechtes Abschneiden befürchteten.
Schliesslich gab es drittens – anders als etwa in Holland – keine unabhängige Stelle, welche die von den Spitälern gelieferten Daten kontrollierte. Die Möglichkeiten, Daten zu beschönigen, gibt es viele. Bereits 2009 hatte ein Länderbericht der OECD/WHO die Schweiz kritisiert, dass sie sich «zu sehr auf die Selbstregulierung durch die Fachgesellschaften verlässt» und kein überzeugendes Kontrollorgan existiere. In den USA mussten Spitäler ihre Infektionszahlen nach oben korrigieren, nachdem die Angaben extern kontrolliert wurden.
Man will von Sanktionen nichts wissen
Speziell bei Darmoperationen hängt das Infektionsrisiko zu einem schönen Teil vom einzelnen Chirurgen und weniger von seinem TEAM ab: Bei den einen Chirurgen kam es nur bei jedem zwanzigsten Patienten zu einer Infektion, bei andern bei jedem dritten. Diese enorme Diskrepanz deckte 2011 eine Studie mit 2393 Patienten von 31 Chirurgen in neun Spitälern auf. Zu besonders vielen vermeidbaren Infektionen kommt es, wenn in Operationssälen eine autoritär geprägte Kultur herrsche, erklärt die internationale Infektions-Koryphäe Professor Peter Pronovost von der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Ist der Chirurg ein Hierarch, würden es die Anwesenden im Operationssaal nicht wagen zu intervenieren, falls etwas schief zu gehen droht, oder wenn der Chef nach einem Telefon oder dem Drücken einer Türfalle die Hände nicht erneut desinfiziert. Trotzdem erfasst Swissnoso die Infektionsraten einzelner Chirurgen nicht. Und die Spitäler wollen nichts wissen von Sanktionen, wenn das Personal im Operationssaal schweigt. Man wolle das «Denunzieren» nicht FÖRDERN. Opfer sind Patienten, denen verlängerte Behandlungen und ein vorzeitiges Sterben drohen. Die erfassten Infektionsraten der einzelnen Spitäler wollen Swissnoso und ANQ nicht bekannt geben, auch nicht die Häufigkeit je nach Spitaltypen – Universitätsspitäler, Zentrumsspitäler und Regionalspitäler. Es seien «zu viele Ko-Faktoren» im SPIEL, um die Zahlen zuverlässig vergleichen zu können. Bei künftigen Vergleichen wollen Swissnoso und ANQ die Infektionszahlen der einzelnen Spitäler veröffentlichen, verspricht Swissnoso-Generalsekretär Erich Tschirky. In einigen US-Bundesstaaten und in Grossbritannien ist diese Transparenz längst vorhanden. Wer eine nicht notfallmässige Darm- oder Bypass Operation vor sich hat, oder ein künstliches Gelenk möchte, bleibt deshalb im Ungewissen, wo er am ehesten riskiert, an einer vermeidbaren Infektion zu erkranken oder sogar zu sterben: Ob in einem Universitätsspital, einem Zentrumsspital oder einem Regionalspital. Auch die schwarzen Schafe unter den Spitälern kann er nicht meiden.