Menschen unter 18 Jahren und Pensionierte sind hierzulande besonders armutsgefährdet. Viele verzichten jedoch freiwillig auf die zustehende Sozialhilfe
Armut in der reichen Schweiz? “Gibt es nicht”, meint SVP-Nationalrat Sebastian Frehner gemäss der “Aargauer Zeitung”. Doch tatsächlich leben auch hierzulande Menschen in Armut. Wie viele genau, kommt auf die Definition an. In den letzten Jahren ging die Armut gemäss BFS stetig leicht zurück – noch im Jahr 2007 lebten 9,3 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut.
Diesen Rückgang spürten auch die Pensionäre. Der Anteil der unter 18-Jährigen in absoluter Armut halbierte sich gar. Doch für Marianne Hochuli, Leiterin Bereich Grundlagen bei der Hilfsorganisation Caritas, sind die Zahlen mit Vorsicht zu geniessen. “Für die Alltagsrealität sind diese Zahlen wenig aussagekräftig – wir verzeichnen jedenfalls von Jahr zu Jahr mehr Sozialberatungen, insbesondere von Familien”, sagt sie zur “Aargauer Zeitung”. Es sei natürlich erfreulich, dass die Kinderarmut statistisch gesehen leicht abgenommen habe. Doch “für ein reiches Land wie die Schweiz ist der Wert immer noch viel zu hoch”, so Hochuli.
Sozialen Ausgrenzungen entgegenwirken
Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) zeigen, dass im Jahr 2014 genau 13,5 Prozent der Bevölkerung “armutsgefährdet” waren. Bei Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre waren es 16 Pro-zent, bei Menschen über 65 Jahre gar 20 Prozent. Ein Teil dieser Menschen lebte in “absoluter” Armut am sozialen Existenzminimum: 6,6 Prozent der Bevölkerung, rund 5 Prozent der unter 18-Jährigen und 14 Prozent der Pensionäre.
Es sei vor allem wichtig, der sozialen Ausgrenzung durch eine frühe Förderung entgegenzuwirken. Armut hänge stark mit sozialer Herkunft zusammen, sagt Hochuli zur Zeitung, und die Schul- und Berufschancen entschieden sich teils schon vor Kindergarten und Schule.
Wenn Kinder nicht die Gelegenheit hätten, mit Gleichaltrigen zu spielen und zu streiten, fehlten ihnen die Voraussetzungen für das systematische Lernen ab dem Schulalter. In diesem Bereich bietet die Schweiz relativ wenig. Gemäss einer Unicef-Statistik liegt die Schweiz bezüglich Bildungschancen bloss an 20. Stelle – von 41 erfassten Ländern.
16.4 Prozent in der Schweiz armutsgefährdet
Die vom BFS gebrauchte Grenze zur “absoluten” Armut orientiert sich an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) – und ist somit exklusiv schweizerisch. Armutsgefährdung kann hingegen für mehrere Länder berechnet werden – und erlaubt somit einen internationalen Vergleich.
Personen gelten prinzipiell als armutsgefährdet, wenn sie weniger als drei Fünftel des mittleren verfügbaren Einkommens der Bevölkerung haben. Das Statistikamt der EU, Eurostat, berechnet so vergleichbare Zahlen für alle EU-Länder – und für die Schweiz. Gemäss der Be-rechnungsart von Eurostat waren 2014 in der Schweiz 16,4 Prozent armutsgefährdet. Das ist der viertniedrigste Wert in Europa, nach Island (11,2 Prozent), Norwegen (13,5) und Tschechien (14,8). Im Durchschnitt sind in den 28 EU-Ländern 24,4 Prozent armutsgefährdet.
Längst nicht alle machen Gebrauch davon
Längst nicht alle Menschen, die Anspruch auf staatliche finanzielle Unterstützung haben, machen davon auch Gebrauch. Eine neue Studie der Berner Fachhochschule (BFH) schätzt, dass jede vierte Person (26,3 Prozent) auf den Bezug von Sozialhilfe verzichtet, obwohl sie Anspruch darauf hätte.
Für die Studie wurden die Steuerdaten des Kantons Bern ausgewertet und mit der Sozialhilfestatistik verglichen. Dadurch sind viel genauere Resultate möglich als bei bisherigen Untersuchungen. “Es darf vermutet werden, dass diese Resultate für die ganze Schweiz gültig sind”, sagt Oliver Hümbelin, der die Studie im Rahmen seiner Dissertation verfasst hat. Ob jemand Sozialhilfe bezieht, hängt auch stark mit dem Wohnort zusammen. In Städten verzichten nur 12 Prozent der Anspruchsberechtigten auf Sozialhilfe.
In Agglomerationen liegt diese Quote bei 28 Prozent. In ländlichen Gemeinden verzichtet gar jede zweite Person auf Sozialhilfe. Der Grund dafür: Menschen auf dem Land nähmen einen deutlich stärkeren sozialen Druck wahr. “Wer befürchtet, sozial geächtet und isoliert zu werden, verzichtet eher auf Sozialhilfe”, sagt Hümbelin.
Tijana Nikolic