Trotz Wirtschaftswachstum sind die Reallöhne letztes Jahr um
0,4 Prozent gesunken. Für Gewerkschafter ist das eine «dramatische Entwicklung»
«Mehr Lohn, mehr zum Leben»: Zum Tag der Arbeit gingen Tausende Menschen für bessere Entlöhnung auf die Strasse. Ihr Protest erhielt Auftrieb durch neue Zahlen des Bundesamts für Statistik: Zwar stiegen die Löhne im Jahr 2018 nominal um 0,5 Prozent. Doch die Teuerung von 0,9 Prozent frass den Anstieg wieder weg. Faktisch standen Arbeitnehmern also 0,4 Prozent weniger zur Verfügung als im Vorjahr. Am stärksten trifft es etwa Pöstler oder Druckereiangestellte.
Durchschnittlich 312 Franken weniger Lohn im Monat
Das heisst konkret: Bei einem Medianlohn von 6502 Franken büsste der durchschnittliche Angestellte letztes Jahr 312 Franken an Lohn ein. Es ist bereits das zweite Jahr in Folge, in dem das Wirtschaftswachstum nicht im Portemonnaie der Arbeitnehmer ankommt. Schon 2017 sanken die Reallöhne um 0,1 Prozent, die Wirtschaft wuchs aber um 1,6 Prozent. Gewerkschafter sehen den Grund für die Lohneinbussen im harten Kurs der Arbeitgeber bei den Lohnverhandlungen. «Wir spüren eine neue Härte», sagt Daniel Lampart, Chefökonom beim Gewerkschaftsbund. Während viele Firmen früher die Teuerung anstandslos ausgeglichen hätten, weigerten sie sich heute zunehmend.
Krankenkassenprämien nicht berücksichtigt
Tatsächlich fehle den Arbeitnehmern noch mehr Geld im Portemonnaie, sagt Lampart. Denn die Pensionskassenbeiträge seien vielerorts erhöht worden, und der starke Anstieg bei den Krankenkassenprämien sei in der Statistik nicht berücksichtigt. Die durchschnittliche Prämie stieg 2018 um 4 Prozent.
Migration spielt dabei keine Rolle
Für Lampart ist es «dramatisch», dass Arbeitgeber trotz guter Konjunktur höhere Löhne verweigerten. «Der Reallohnverlust fehlt jetzt beim Begleichen der Rechnungen.» Da es nun bereits seit zwei Jahren keine Reallohnerhöhungen gegeben habe, würden nun auch die Gewerkschaften härter verhandeln, so Lampart. Zu welchen Massnahmen sie greifen wollen, lässt er offen. Die Migration spiele bei der Lohnentwicklung indes kaum eine Rolle, sagt Lampart. «Die Branchen mit den schlechtesten Abschlüssen beschäftigen relativ wenige Personen aus dem Ausland.»
Welche Rolle spielt die Zuwanderung?
Anderer Meinung ist Reiner Eichenberger, Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Fribourg. «Es ist eine ziemlich komische Vorstellung, dass die Wertschöpfung einfach mit der Bevölkerung mitwächst.» Denn dafür müssten die Schweizer Firmen immer mehr Produkte zu gleich guten Preisen in die internationalen Märkte pumpen können. Das sei in vielen Branchen unrealistisch. Der Verdacht liege nahe, dass durch die immer noch «historisch hohe Zuwanderung» die Löhne gedrückt würden. «Natürlich gewähren Chefs weniger Lohnerhöhungen, wenn sie Ausländer zu tieferen Löhnen anstellen könnten.» Die Zuwanderung treibe zudem auch die Wohn-, Pendel- und Energiekosten in die Höhe, was wiederum die reale Kaufkraft senke.
Minusrunden kaum ein Problem
Dass nun bereits seit zwei Jahren die Reallöhne sinken, gibt Eichenberger nicht grundsätzlich zu denken. Längerfristig sollten die Löhne pro Jahr um real etwa 0,8 Prozent steigen – sofern der Arbeitsmarkt genug flexibel sei, damit Firmen rasch in aufstrebende Geschäftsfelder einsteigen können.
Was man sich alles mit den fehlenden 312 Franken leisten könnte:
Die mittlere Krankenkassenprämie beläuft sich beispielsweise laut dem Bundesamt für Gesundheit auf 315.20 Franken.
Apples Hype-Kopfhörer gibt es bei Digitec für 179 Franken. Für die passende Musik sorgt ein Spotify-Abo für 12.95 Franken pro Monat. Das Paket kostet zusammen 334.40 Franken.
Die Abgabe für Radio und Fernsehen beträgt seit diesem Jahr 365 Franken.
Mit einem Aufpreis liegt das neue Gleis-7-Abo der SBB Seven25 drin. Damit ist man von 19 bis 5 Uhr im ÖV unterwegs.
Ein Netflix-Account, den vier Personen nutzen können, kostet 21.90 Franken pro Monat. Macht 262 Franken pro Jahr.
Im Skigebiet Gstaad könnte man für 338 Franken sechs Tage lang Skifahren.
Nicht gerade die Luxusvariante, aber für 300 Franken gibt es die Stehplatz-Saisonkarte für den FC Zürich.
Tijana Nikolic