Der Kanton Neuenburg kann endlich umsetzen, was er schon lange vorhatte: Rund 2700 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben rückwirkend Anspruch auf einen Minimallohn
Der Kanton Neuenburg führt als erster Kanton der Schweiz einen Minimallohn ein. Rund 2700 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben rückwirkend per 4. August Anspruch auf 19,70 Franken pro Stunde. SP-Regierungsrat Jean-Nathanaël Karakash erinnerte heute an einer Medienkonferenz daran, dass Neuenburg der erste Kanton ist, der einen Minimallohn einführt. Der Weg dahin war allerdings lang. Arbeiter wie der Neuenburger Taxichauffeur Matheus Lolala freut sich über das Urteil: «Das ist ideal für alle. Darauf haben wir lange gewartet. Ich hoffe, dass das jetzt wirklich gilt.» Für ihn sei der Mindestlohn ein gesegnetes Brot.
Viele Rekurse beim Bundesgericht eingegangen
Im November 2011 stimmte die Bevölkerung dem Prinzip eines kantonalen Minimallohns in der Höhe von rund 20 Franken pro Stunde zu. 2014 verabschiedete dann das Neuenburger Kantonsparlament ein Ausführungsgesetz, das Anfang 2015 in Kraft treten sollte. Das wurde jedoch verhindert, weil verschiedene kantonale und nationale Arbeitgeber- und Wirtschaftskreise beim Bundesgericht Rekurse einreichten.
Daraufhin wurde die Inkraftsetzung des Gesetzes aufgeschoben. Ende Juli 2017 entschied das höchste Gericht schliesslich, dass der Minimallohn ein Werkzeug der Sozialpolitik sei, um die Armut zu bekämpfen. Der Minimallohn verstosse nicht gegen die in der Bundesverfassung verankerte Wirtschaftsfreiheit. Der Entscheid des Bundesgerichts ist direkt anwendbar. Die Neuenburger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben somit rückwirkend per 4. August Anrecht auf den Minimallohn. Sollte sich ein Arbeitgeber nicht daran halten, könnten die Arbeitnehmer ihr Recht vor Gericht erstreiten. Der Neuenburger Mindestlohn liegt damit tiefer als die 22 Franken, die der Gewerkschaftsbund in einer Volksinitiative für die gesamte Schweiz gefordert hatte.
«Wir werden keine Hexenjagd machen»
Der Kanton Neuenburg möchte Streitfälle allerdings lieber vermeiden und setzt auf die Konsultation der Sozialpartner. Man müsse den Arbeitgebern etwas Zeit lassen, um sich an die neue Situation anzupassen, sagte Karakash. «Wir werden für die Zeit von August bis Ende Jahr keine Hexenjagd machen», versprach er.
Der Kanton hat ein Regelwerk erarbeitet, das den Arbeitgebern und Arbeitnehmern helfen soll, sich zurechtzufinden. Es enthält unter anderem auch die Ausnahmen und erklärt, wie die tripartiten Kommissionen funktionieren. Diese werden ab 2018 mit ihrer Kontrollfunktion beginnen und künftig alljährlich einen Bericht darüber erstellen, ob die Branchen korrekte Löhne zahlen. Kontrolliert werden auch diejenigen Branchen, die über einen Gesamtarbeitsvertrag verfügen. Zwar liegt der Neuenburger Mindestlohn mit 20 Franken pro Stunde unter der von Gewerkschaften, wie beispielsweise der Unia geforderten Untergrenze von 22 Franken. Dennoch ist er die erste kantonale Lösung, die in Kraft treten kann. Gewerkschaften hoffen, dass weitere Kantone dem Beispiel von Neuenburg folgen und kantonale Regelungen einführen. Mindestlöhne sind ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung von Lohndumping.
Minimallohn jährlich der Inflation anpassen
Das Gesetz sieht vor, dass der Minimallohn jedes Jahr der Inflation angepasst wird. Für 2017 ist die Indexierung negativ, was zu einem Minimallohn von 19,70 Franken pro Stunde führte. Dies entspricht bei einer 42-Stunden-Woche und inklusive 13. Monatslohn einem monatlichen Gehalt von 3’400 Franken. Ein Monatslohn von 3’400 Franken ohne einen 13. Monatslohn läge unter dem Minimallohn und wäre nicht gesetzeskonform. Im Kanton Neuenburg arbeiten rund 2700 Personen, die weniger als 19,70 Franken verdienen. Von diesen Personen sind 1700 Frauen.
Rund zwei Prozent der Tieflohnempfänger sind Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Die globale Lohnsumme wird sich mit der Umsetzung des Gesetzes um 7,1 Millionen Franken erhöhen, was 0,17 Prozent der globalen Lohnsumme entspricht. Ausgenommen vom gesetzlichen Minimallohn sind die Landwirtschaft, der Rebbau sowie Ausbildungsplätze.
Auch Jura stimmte Mindestlohn zu
In der Schweiz stimmte ausser Neuenburg einzig der Kanton Jura 2013 kantonalen Mindestlöhnen zu. Im Kanton Jura müssen in Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag (GAV) künftig Mindestlöhne eingeführt werden, die sich an den nationalen Medianlöhnen orientieren.
Die Umsetzung im Kanton Jura steht noch aus. In der Westschweiz kam es bereits zu mehreren kantonalen Abstimmungen über Mindestlöhne. Die Kantone Genf und Waadt lehnten die Einführung eines Mindestlohns 2011 ab. Das Wallis verwarf am 18. Mai einen kantonalen Mindestlohn von 3500 Franken mit 80,7 Prozent Nein-Stimmen.
Traum der Gewerkschaften wird wahr
Nicht nur Taxichauffeur Lolala freut sich über den Mindestlohn. Im Kanton Neuenburg ist heute das Realität geworden, wovon Gewerkschafter in der ganzen Schweiz seit Langem träumen. «Wir hoffen, dass der Entscheid in allen anderen Kantonen erneut einen Impuls gibt, denn in allen Kantonen gibt es Arme», sagt Marianne Ebel von der Bewegung SolidaritéS, welche den Vorstoss einst initiiert hatte.
Doch hat ein Mindestlohn auf nationaler Ebene überhaupt Chancen? Erst 2014 schmetterte das Schweizer Stimmvolk die Initiative für einen nationalen Mindestlohn von 4000 Franken haushoch ab.
Wenig Chancen für nationales Revival
Politologe Claude Longchamp sieht deshalb wenig Chancen für ein nationales Revival des Mindestlohnes. Neuenburg sei ein Spezialfall: «Es ist ein Gebiet mit schwacher Wirtschaft, drohender Armut und einem politischen Konsens, der sich darüber einig ist, dass es protektionistische Massnahmen braucht.»
Das Thema Mindestlohn ist denn auch lediglich noch in zwei Kantonen auf dem Tisch: Im Jura und im Tessin wurden per Abstimmung ebenfalls Mindestlöhne beschlossen, die Umsetzung ist allerdings noch hängig.
Dazu kommt: Obwohl es in der Schweiz keinen national verbindlichen Mindestlohn gibt, gelten dennoch für viele Beschäftigte de facto Mindestlöhne – nämlich dann, wenn sie in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt wurden.
Befürchteter Schnitt ins eigene Fleisch
Von den rund fünf Millionen Beschäftigten in der Schweiz gilt für rund 1,7 Millionen ein Mindestlohn dank eines GAV. National verbindliche Mindestlöhne gelten unter anderem im Gastgewerbe, in der Bäckerei-Branche, bei der Temporärarbeit und auch bei privaten Sicherheitsdiensten. Keine allgemein verbindlichen Mindestlöhne gibt es beispielsweise im Detailhandel, im Callcenter-Bereich sowie in den Pflegeberufen.
Taxi-Chauffeur Lolala freut sich in Neuenburg jedenfalls auf die 20 Franken Mindestlohn. Momentan verdient er 10 Franken pro Stunde plus 20 Prozent des Umsatzes. Skeptischer sieht es sein Chef Patrick Favre: «Das Bundesgericht möchte ‹working poors› reduzieren, bewirkt aber womöglich genau das Gegenteil. Wenn wir diesen Mindestlohn für jede Stunde zahlen müssen, werden wir gewisse Fahrer in die Selbständigkeit entlassen müssen. Und dann haben sie gar keinen Lohn auf sicher.» Realität oder Angstmacherei?
Tijana Nikolic