In letzter Zeit gerät die Schweiz immer wieder wegen Rassismus Vorwürfen in Verruf. Was ist dran, an den wüsten Vorwürfen?
Ein angebliches Badeverbot für Asylbewerber und eine Talkmasterin, die sich in einer Zürcher Boutique schlecht behandelt sah – zwei Vorfälle genügten letzte Woche, um die Schweiz in die Schlagzeilen internationaler Medien zu katapultieren. Whistleblower Edward Snowden hat die Schweizer jüngst sogar als rassistischstes Volk der Welt bezeichnet. Regelmässig schlechte Zensuren erhält unser Land auch von UUNO-Organisationen. 2006 hatte Doudou Diène, UNO-Sonderberichterstatter gegen Rassismus, ein düsteres Bild von den hiesigen Verhältnissen gezeichnet: Das politische Klima sei von fremdenfeindlichen Tendenzen geprägt, Ausländer und Flüchtlinge würden kriminalisiert, es fehle eine Strategie von Politik und Justiz im Kampf gegen diese «grösste Herausforderung der modernen Gesellschaft».
Nebst ihrem Inhalt zeichnet diese Urteile eine zweite Gemeinsamkeit aus: Sie sind nicht das Resultat wissenschaftlicher Studien, sondern stützen sich weitgehend auf Einschätzungen oder Rückmeldungen von Betroffenen – auch im Fall von Diène, dessen Grundlage für seinen Bericht ein fünftägiger Besuch in der Schweiz war. Kritiker warfen dem Senegalesen vor, innert so kurzer Zeit lasse sich kein fundiertes Urteil bilden. Doch das Bild der Schweiz als Hort des Rassismus ging um die halbe Welt. Für Gianni D’Amato vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte kommt der Befund der EU-Agentur nicht überraschend: «In ganz Europa schwindet der Anstand gegenüber Ausländern.» Der einzige Unterschied: In der Schweiz herrsche eine konstant kritische Haltung gegenüber Ausländern, im Ausland hingegen habe sich dieses Phänomen in den letzten Jahren akzentuiert. Eine neue Studie liefert Details zum Ausländerbild der Schweizer. Verfasst haben sie Fachleute der Universität Neuenburg und des Swiss Forum for Migration and Population Studies, deren Direktor D’Amato ist. Demnach sind die meisten Schweizer Ausländern nicht stark abgeneigt, doch sie nehmen die verschiedenen Ausländergruppen unterschiedlich wahr. Zugewanderte aus westeuropäischen Staaten erlebten die Schweizer wie Einheimische aus Nachbarkantonen. Grösseres Missbehagen bestehe vor allem gegenüber Ausländern mit deutlich anderer Kultur, heisst es in der Studie. Interessanterweise treffe diese Beobachtung nicht auf Geschäftsleute zu. Wenig beliebt seien Ausländer, die Sozialbeiträge bezögen.
Die Urteile der Schweizer Fachleute stehen auf dem Prüfstand: Im Herbst erhält die Schweiz Besuch von einer Delegation der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI). Die letzte Untersuchung datiert von 2009. Im 60-seitigen Bericht gab es durchaus Lob, etwa für das neue Ausländergesetz, das die Rahmenbedingungen für eine chancengleiche Behandlung der Ausländer verbessere. Die Kommission kritisierte die Schweiz aber auch, etwa für die «pauschale Verurteilung» von Ausländern und politische Vorstösse mit xenophobem Unterton. Und sie machte mehrere Empfehlungen: Die Antirassismus-Strafnorm etwa sei künftig einheitlicher und konsequenter anzuwenden. Exklusiv ist diese Art von Kritik freilich nicht, wie das Urteil von ECRI für andere Länder zeigt. 2009 empfahl das Gremium, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit künftig konsequenter vorzugehen. Adressat war Deutschland – jenes Land, in dem Medien wie der «Spiegel» letzte Woche die «Freibad-Rassisten von Bremgarten» angeprangert haben.
Neuste Aussagen beruhen nicht auf Studien
Menschenrechtsorganisationen, die als besonders sensibilisiert auf Rassismus gelten, warnen vor falschen Schlüssen: «Es lässt sich nicht belegen, dass die Schweiz rassistischer ist als andere Länder», sagt Alex Sutter, Geschäftsführer von Humanrights.ch. Es mangle an internationalen Untersuchungen, welche dank standardisierten Umfragen einen seriösen Ländervergleich zuliessen. Eine Ausnahme bildet eine neue Studie zur «Integration von Zuwanderern», welche die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erstellt hat. Demnach ist nur in Luxemburg der Anteil der Zugewanderten, die sich diskriminiert fühlten, noch tiefer als in der Schweiz. Politgeograf Michael Hermann spricht deshalb von einem «Zerrbild einer rassistischen Schweiz».
Das Niveau schwerer rassistischer Gewalt taxiert Humanrights.ch in der Schweiz als «recht klein». Die Statistik bestätigt dies. Keinen eindeutigen Trend zeigt die Entwicklung der Anzeigen wegen Rassendiskriminierung: Deren Zahl ist beträchtlichen jährlichen Schwankungen unterworfen, mit einem Höhepunkt im Wahljahr 2007, als die SVP die Ausschaffungsinitiative, die Minarettverbotsinitiative sowie die «Maulkorb»-Initiative zur Abschaffung der Antirassismus-Strafnorm lancierte. Seither nimmt die Zahl ab. Zwar weisen Fachleute auf eine grosse Dunkelziffer nicht erfasster rassistischer Vorfälle hin. In der Einschätzung von Humanrights.ch ist die Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten aber nicht rassistischer geworden – trotz der SVP, die mit ihrer ausländerfeindlichen Politik einen Nährboden geschaffen habe. Im Gegenteil, gibt Geschäftsführer Sutter zu bedenken, sei in den 90er-Jahren die Bereitschaft zu rassistischer Gewalt eher grösser gewesen als heute. Er begründet dies mit rechtsradikalen Gruppen, die im Vergleich zu heute damals stärker präsent waren. Sutter verweist auf die Zahlen der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus: Am meisten Angriffe auf die körperliche Integrität registrierte die Stiftung mit 21 Fällen 1994. Ende der 90er-Jahre waren es noch immer gegen 20 Fälle. Seit 2008 bis heute sind insgesamt nur 14 neue Fälle zusammengekommen.
Offizielle Stellen des Bundes bestätigten Sutters Analyse: «Die Schweiz steht punkto Rassismus zumindest nicht schlechter da als andere Länder, gerade in Anbetracht des vergleichsweise hohen Ausländeranteils», sagt Michele Galizia, Geschäftsführer der Fachstelle für Rassismus Bekämpfung im Departement von Alain Berset (SP). Punkto Ausländer- und Asyldichte belegt die Schweiz europaweit in der Tat Spitzenplätze.
Dass die Schweiz keinen Sonderfall darstellt, zeigt indirekt ein 2010 veröffentlichter Bericht der EU-Grundrechteagentur: Rassismus und die Diskriminierung von Minderheiten, so das Fazit, seien im europäischen Alltag weitaus stärker verbreitet als angenommen. Die Fachleute befragten total in den 27 Mitgliedsstaaten 23 500 Einwanderer sowie 5000 EU-Bürger. Mehr als jeder Dritte gab an, im letzten Jahr persönlich Diskriminierung erlebt zu haben, mehr als jeder Zehnte bezeichnete sich als Opfer eines rassistisch motivierten Verbrechens. Am stärksten diskriminiert fühlen sich gemäss Studie Roma in Ungarn, Tschechien und der Slowakei sowie Afrikaner in Frankreich und Italien, wo Senator Roberto Calderoli von der Lega Nord Cécile Kyenge, die erste schwarze Ministerin des Landes, unlängst mit einem Orang-Utan verglichen hat.