In der Schweiz gibt es zu wenig Therapieplätze für Jugendliche. Manchmal komme Hilfe erst nach einem Suizidversuch, sagt ein Experte. Die Folgen können verheerend sein
Immer wieder überlegte sich R.F., wie sie sich umbringen könnte. Sie verletzte sich mehrfach selbst. Sie war der Überzeugung, schlechter zu sein als alle anderen. Nach zwei Jahren ambulanter Therapie ging es nicht mehr. Eine Ärztin wies die Jugendliche in eine Klinik in der Ostschweiz ein. Nach einigen Wochen der Rückfall: F. verletzte sich wieder selbst. Trotzdem blieb F. in der Klinik. Nach zwölf Wochen ist sie sicher, dass sie weiss, wie sie sich in Zukunft verhalten kann.
Solche Situationen kennen viele
Ähnlich erging es vielen Depressiven. Sie sind aggressiv gegenüber Fremden, verspüren eine «enorme Wut». Notfallmässig werden sie in Kliniken eingeliefert, wo sie durch verschiedene Programme lernen ihre Probleme zu lösen. Denn dort merken sie endlich, dass sie Hilfe brauchen. In Situationen wie dieser befinden sich Tausende. Doch sie müssen zum Teil monatelang auf Hilfe warten. «Viele kommen erst zu einem Platz, wenn sie einen Suizidversuch hinter sich haben», sagt der Psychologe Samuel Rom. Laut der «NZZ am Sonntag» sind in der Schweiz 100’000 Jugendliche verhaltensauffällig, 400 bräuchten eine stationäre Langzeitbehandlung.
Behandlungsplätze fehlen
Doch die Plätze fehlen. Für Härtefälle gibt es laut der Zeitung nur zwei Kliniken in Münsterlingen TG und Neuenhof AG, die etwa 50 Plätze pro Jahr bereitstellen. Dabei seien die Härtefälle in den letzten Jahren krasser geworden, so Experten. Mit ein Grund sei der Cannabiskonsum. Der THC-Gehalt des Cannabis sei deutlich höher geworden, was die Probleme weiter verschärfe. Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) weiss, dass es viel zu wenige Plätze gibt. In einer Studie aus dem Jahr 2016 heisst es, bei Kindern und Jugendlichen müsse «von einer deutlichen Unterversorgung ausgegangen werden». Es gebe überall und für alle Formen «lange Wartefristen und einen Mangel an Fachkräften und Angeboten». Ausserdem stellt das BAG einen «spezifischen Mangel an Angeboten, die von der Grundversicherung finanziert werden», fest. Die Wartefristen seien zum Teil monatelang, sagt Samuel Rom von der Föderation der Psychologen.
Psychologen wollen neues System
Nun kämpft sein Verband für einen Systemwechsel. Bessere Hilfe sei möglich, wenn Psychologen selbst mehr Diagnosen und Behandlungen durchführen könnten. Das spare wertvolle Zeit, sagt Samuel Rom vom Vorstand der Föderation der Psychologen. Heute würden Patienten viel Zeit damit verlieren, einen Arzt zu finden, der die richtige Diagnose stelle und einen Fachpsychiater in seiner Praxis habe.
Petition ist bereit
In einer Petition fordert der Verband nun, dass künftig jeder Arzt Patienten an einen Psychotherapeuten überweisen kann. Je früher eine Intervention stattfinde, desto wirksamer sei sie, sagt Rom – und desto mehr Geld werde gespart. «Kinder sind die verletzlichsten und volkswirtschaftlich bedeutendsten Patienten.» Wenn man psychisch kranke Jugendliche schon früh erreiche, könne man sie noch ambulant behandeln und so verhindern, dass sie später eine teurere stationäre Behandlung benötigen, für die es zu wenige Plätze gibt.
Mehr stationäre Angebote wären hilfreich
Der Zürcher Suchtexperte Toni Berthel sagt: «Es wäre hilfreich, mehr stationäre Angebote zu haben.» Für die Gruppe der Jugendlichen, die psychische, soziale und Suchtprobleme gleichzeitig habe und in einer Klinik behandelt werden müsse, gebe es nur wenige spezialisierte Plätze. Der grösste Teil der jugendlichen Patienten könne aber ambulant behandelt werden, wenn es früh genug geschehe. Dazu gehören etwa jene Jugendliche, die Probleme damit haben, sich vom Elternhaus zu lösen oder eine Lehrstelle zu finden und die eine Tagesstruktur brauchen.
«Alkohol ist in anderer Dimension»
«Hinter schweren Suchterkrankungen stehen immer auch andere psychische Probleme», sagt Berthel. Häufig werde etwa ADHS diagnostiziert, andere hätten zusätzlich Depressionen. Das Problem mit dem Cannabiskonsum seien weder selten auftretende Psychosen noch Schizophrenie: «Entwickelt er sich zu einer Sucht, vernachlässigt man andere wichtige Aspekte wie Freundschaften. Man entwickelt sich nicht mehr weiter, schafft es nicht, seine Rolle in der Gesellschaft zu finden, eigenständig zu werden und sich von den Eltern zu lösen.»
Sport oder Treffen mit Freunden anstatt zu kiffen
Bei diesen Jugendlichen gehe es darum, aufzuzeigen, dass ihr Konsum strafrechtlich relevant sei, und einen besseren Umgang mit der Substanz zu finden. Dann brauche es einen Ersatz für die Zeit, in der man kiffe – Sport oder das Treffen von Freunden. Dass die Probleme mit Cannabis zunehmen, sehe er aber nicht. Der Missbrauch von Alkohol bewege sich etwa in einer «ganz anderen Dimension». Um mit dem Leistungsdruck klarzukommen und sich Entlastung zu verschaffen, konsumierten zudem 20 Prozent der älteren Erwachsenen und drei bis fünf Prozent der Jugendlichen Schlaf- und Beruhigungsmittel. «Das Problem auf Cannabis zu beschränken», sagt Berthel, «macht keinen Sinn.»
Tijana Nikolic