Herr Parvaresh, erzählen Sie uns von Ihrer Vergangenheit.
Ich hatte in meiner Heimat damit begonnen, Medizin zu studieren, doch dort konnte ich das Studium nicht beenden. Ich war fünf Jahre lang im Krieg, danach steckte man mich für sieben Jahre in ein geheimes Gefängnis der Hizbollah, das war schrecklich. Nach fünf Jahren Krieg und sieben Jahren Gefängnis war ich auch gesundheitlich sehr angeschlagen. Heute geht es mir gottseidank gut. Aber vielleicht musste es so geschehen, vielleicht war es Schicksal. Als ich dann in die Schweiz kam, war ich in einer schwierigen Situation, ich musste mich entscheiden, was ich mit meiner Zukunft anstellen sollte. Ich bin internationaler Schachspieler. Die Schweiz wollte mich, das war eine grosse Chance, denn man reist in der ganzen Welt herum. Ausserdem wollte man mich bei der SwissAir anstellen, das hätte mir auch sehr gefallen. Eines Tages hatte ich zwei Briefe in meinem Briefkasten. Der eine war vom Schachverband, der andere war von der SwissAir. Ich habe die Briefe mit meiner Frau zusammen geöffnet, und es waren beides positive Bescheide. Es waren beide sehr gute Möglichkeiten, auch um viel Geld zu verdienen. Doch Geld macht nicht glücklich. Meine Frau hat nicht sehr gut darauf reagiert, das hat mich sehr beschäftigt. Ich wollte einfach glücklich sein und leben und arbeiten, wie alle anderen auch. Die Schweiz hat mich damals aufgenommen, und ich wollte alles korrekt machen, ich wollte nicht arbeitslos sein. Da hat mir meine Frau, die das Christehüsli aufgebaut hatte und Leiterin war, angeboten, für einige Zeit im Christehüsli mitzuhelfen, weil viele in den Ferien waren und sie praktisch alleine war. Aber ich wollte, nach allem was ich erlebt hatte, nicht im Christehüsli arbeiten. Ich habe mich dann aber entschieden, ihr eine Woche lang zu helfen, diese Woche verlief wirklich gut. Nach einer Woche bat sie mich dann, noch eine Woche zu bleiben, eigentlich wollte ich nicht. Es war schwierig für mich, mit den Randständigen umzugehen und der Verdienst war natürlich sehr gering. Schliesslich, nach zwei Wochen, hat mich meine Frau dann doch dazu überredet, ein Praktikum im Christehüsli zu machen. Jetzt nach so vielen Jahren bin ich sehr zufrieden, seit 2000 bin ich Leiter des Christehüsli. Die Arbeit hier ist schön, doch es ist sehr hart.
Wer kommt ins Christehüsli?
Die Menschen, die zu uns kommen, sind fast kaputt. Diese Menschen haben ein gutes Herz, teilweise sind sie selber Schuld an ihrem Schicksal, doch teilweise leistet auch unsere egoistische Gesellschaft den Beitrag daran. Auch meine Liebe zu diesen Menschen ist gewachsen. Ich war zwar nie drogensüchtig, aber ich habe auch schreckliche Erfahrungen gemacht. In den sieben Jahren im Gefängnis habe ich fast nichts zu essen bekommen, teilweise musste ich bis zu einem ganzen Tag warten, um auch nur einen Schluck Wasser trinken zu können. Die Zelle war sehr klein, man konnte sich nicht ganz aufrichten, sondern konnte nur gebückt stehen. Das Bett war viel zu kurz, so dass ich mich zusammenkauern musste, um darauf schlafen zu können. Ausserdem habe ich sieben Jahre lang kein Licht gesehen, es war immer dunkel. Mit der Zeit schwächt einen das extrem. Ich mache sehr viele Gefängnisbesuche in der ganzen Schweiz, weil mich die Leute anrufen, um sie dort zu unterstützen. Aber was ich bisher gesehen habe, ist, dass die Gefängniszellen hier im Gegensatz zu dem Gefängnis wo ich war 5-Sterne-Zimmer sind. Trotzdem ist eingesperrt sein, sehr hart, egal in welchem Gefängnis. Es bringt den Menschen viel, wenn man manchmal auch einfach nur da ist, ohne viel zu reden.
Sie haben schreckliche Erfahrungen gemacht, weil man sie in ein Gefängnis gesteckt hat. Tut es manchmal nicht weh, wenn sie daran denken, dass gewisse Randständige, wie sie sagen, selbst schuld sind an ihrem Schicksal?
Einerseits schon, doch meiner Erfahrung nach sind etwa 80% der Randständigen nicht selber Schuld. Ein 27-Jähriger ist erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden, doch ich kenne ihn schon sehr lange. Er war sehr jung, als er zum ersten Mal ins Christehüsli kam. Da hatte ich ihn gefragt, wieso er solchen Blödsinn mache, er war oft in Schlägereien verwickelt. Er hat mir dann weinend erzählt, dass er nie gelernt habe, mit anderen umzugehen. Als er drei Jahre alt war, haben seine Eltern ihn in ein Heim gegeben. Als er elf Jahre alt war, gab es Leute in diesem Heim, welche ihm Drogen gaben. Was erwarten sie jetzt von diesem Mensch? Das tut mir sehr weh. Ein grosser Teil der Schuld tragen auch die Eltern und die Erziehung. Es gibt viele, die sich ihrer Verantwortung nicht bewusst sind oder diese gar nicht übernehmen wollen. Bei mir zu Hause gab es Regeln, meine Mutter wusste immer genau, wann ich wo war, sie hat mich pünktlich zur Schule geschickt. Es braucht keine diktatorischen Verhältnisse, aber es braucht Disziplin. Meine Eltern wussten auch, wie mein Freundeskreis aussah. Heute ist es schwieriger geworden, weil viele Eltern nicht mehr genügend Zeit haben für ihre Kinder. In vielen Familien müssen beide Elternteile arbeiten, da bleibt nicht viel Zeit für die Kinder. Also verbringen die Kinder die Zeit draussen. Das ist ein grosses Problem in unserer Gesellschaft. Man muss immer bedenken, dass alle einen Fehler machen können. Wichtig ist aber, dass man aus den Fehlern lernt. Es ist doch nicht verständlich, wenn eine junge Frau mit Kokain zuhause erwischt wird, die Eltern dann nicht reagieren!
Wie schaffen Sie es, diese schwierige Arbeit Tag für Tag zu machen?
Für uns ist es sehr wichtig, positiv zu denken. Wir Gassenarbeiter kennen viele traurige Geschichten, ich könnte ganze Bücher darüber schreiben. Ich kenne tausende Geschichten. Wir sind da, um diesen Leuten Hoffnung zu geben und um eine gute Lösung für sie zu finden. Es ist aber auch schön zu sehen, dass in der letzten Zeit Eltern zu uns gekommen sind, weil sie mit ihren Kindern überfordert waren. An der Tellstrasse haben wir das Büro, wo wir Beratung anbieten. Hier sind wir nahe an der Langstrasse. Das ist ein Vorteil, denn bei Drogensüchtigen muss man schnell handeln, es kann sein, dass sie im nächsten Moment schon nur noch an ihre Drogen denken und von uns gar nichts mehr wissen wollen. An der Cramerstrasse haben wir das CHAI, unsere Anlaufstelle, wo die Leute zusammen sein können und einen Kaffee trinken können. Da geht es uns um Gemeinschaft. Zuerst müssen wir das Vertrauen herstellen, das braucht seine Zeit und viel Geduld. Es heisst zwar Christehüsli, doch wir nehmen nicht nur Christen auf, es sind alle herzlich willkommen. Wir beginnen unseren Tag mit einem Gebet, wer sich anschliessen möchte, kann das sehr gerne. Wir zwingen aber niemanden.
Wie gehen sie auf Gassenleute zu?
Heute im Jahre 2011 liegt das Problem nicht mehr nur an der Langstrasse, sondern in der ganzen Stadt und im ganzen Kanton, ja in der ganzen Schweiz. Früher waren Orte wie das Letten oder der Platzspitz sehr bekannt für Drogenprobleme. Das ist heute vorbei. Heute ist alles viel versteckter. In jedem Stadtkreis gibt es Probleme. Die erste Regel ist, dass man nie alleine unterwegs ist. Gassenarbeit macht man immer zu zweit, einerseits aus Sicherheitsgründen, anderseits auch damit man sich gegenseitig unterstützen kann. Man weiss nie, womit man bei einer Person rechnen muss. Bisher hat Gott uns bewahrt, doch wir hatten schon Messer an der Kehle und Pistolen am Kopf. Ich habe schon sehr viele Morddrohungen erhalten. Man kann diesen Leuten nicht immer nur schmeicheln, man muss auch hart eingreifen können und es ihnen sagen, wenn sie etwas falsch machen.
Ist denn schon einmal etwas sehr schlimmes passiert?
Es gibt sehr aggressive Menschen. Ein Mann hatte sich einmal in eine Frau verliebt, doch sie hat diese Liebe nicht erwidert. Er stand dann hier mit einem riesigen Messer, und wir haben es nicht geschafft, ihm dieses Messer wegzunehmen, schliesslich mussten wir die Polizei rufen.Auch als Familie haben wir etwas sehr Schlimmes erlebt. Als meine Frau schwanger war, hat sie jemand im Christehüsli mit einem Virus angesteckt. Unser einziger Sohn kam gehörlos zur Welt, aufgrund dieses Virus. Seit 13 Jahren leiden wir darunter, dass er gehörlos ist. Für uns war das sehr schwierig, wir arbeiten hier sehr hart für diese Menschen und durch diese Arbeit ist unser Sohn gehörlos. Es war sehr schwierig das zu verarbeiten. Doch ich habe mich dazu entschlossen, weiter zu arbeiten. Trotz allem sind wir eine sehr glückliche Familie. Du gibst diesen Menschen sehr viel, und manchmal kommt nichts zurück oder sie sterben.Aber es gibt auch sehr schöne Geschichten. Vor kurzem habe ich eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern getroffen. Sie hat meinen Namen gerufen, doch im ersten Moment habe ich sie nicht erkannt. Sie hat mich gedrückt und mir gedankt, sie hat nun eine Arbeit, zwei Kinder und ist sehr glücklich. Das hat mir den Tag versüsst, ich war total glücklich, solche Geschichten sind für uns das Schönste. Die Geschichte eines Mannes, der in seinem Leben Schreckliches erfahren hat und trotzdem heute mit ganzem Herzen drogensüchtigen und randständigen Menschen hilft.
Manuela Salamone
Zu den Fotos:
Emmanuel Parvaresh bei der Arbeit an der Langstrasse.Das Team des Christehüsli bei der Arbeit, im Gespräch mit einem Randständigen. Im Park, auf der Strasse und bei einem Spaghetti-Plausch nahe dem Zürcher Volkshaus.