In Skandinavien wird mit Sechs-Stunden-Arbeitstagen und limitierten Überstunden experimentiert. Solche Lösungen scheinen für die Schweizer Arbeiterschaft noch weit weg
Im Durchschnitt hat sich gemäss der Analyse von Avenir Suisse die jährliche Arbeitszeit pro Vollzeitstelle um 22 Stunden verkürzt. Untersucht wurde der Zeitraum von 2010 bis 2016. Darin wurden alle geleisteten Arbeitsstunden – inklusive Überstunden – berücksichtigt. Die Analyse will zeigen, dass es nur bedingt stimmt, dass die Arbeitszeit in den vergangenen Jahren gestiegen sei. «Die Arbeitszeit nimmt schon seit langem ab.
Das ist also kein neuer Trend, sondern eine fast hundert Jahre alte Entwicklung», sagt Natanael Rother, Autor der Analyse von Avenir Suisse.
«Beträchtliches Wohlstandsniveau»
Obwohl Arbeitnehmer in der Schweiz also weniger Stunden pro Jahr arbeiten müssen, wird mehr Wohlstand generiert. Avenir Suisse schreibt: Das BIP pro Beschäftigtem sei in der gleichen Zeit in der Vergleichswährung «internationaler Dollar» gerechnet von 40’000 auf über 96’000 angestiegen. Zwar dürfe man nicht vergessen, dass Arbeitszeitreduktionen nicht immer freiwillig seien. Dennoch sei die Tendenz klar: «Schweizer arbeiten insgesamt weniger bei grösserem Output.»
Rother erklärt, dass «unser beträchtliches Wohlstandsniveau» in erster Linie mit der Produktivität zu tun habe, die stetig zunehme. «Praktisch alle Branchen können vom technologischen Fortschritt profitieren.» Ein weiterer Faktor sei, dass immer mehr Leute arbeiten würden. Besonders die Frauen hätten hier im Vergleich mit den Männern aufgeholt, sagt Rother. Avenir Suisse fasst zusammen: «In den meisten Branchen zeigt sich in der mittleren Frist eine Reduktion der Arbeitsbelastung.»
Viele verzichten auf hohen Lohn aus Gesundheit
Beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) betrachtet man die Auswertung von Avenir Suisse kritisch: «Das ist Wunschdenken», sagt Daniel Lampart, Chefökonom beim SGB. In den vergangenen zwei bis drei Jahren habe man feststellen müssen, dass die Jahresarbeitszeit zum ersten Mal seit langer Zeit wieder steigt. «Zusätzlich zur Arbeitszeit nehmen auch Stress und Belastung weiter zu», so Lampart. Die Tendenz sei, dass man mehr arbeiten müsse für denselben Lohn. «Darum weichen die Leute nun selbst aus: Sie fahren ihr Pensum zurück und verzichten auf den höheren Lohn.»
Massiver Druck
Yvonne Ribi, die Geschäftsführerin des Verbands der Pflegefachfrauen und -fachmänner, sagt, die Studie von Avenir Suisse lasse keine Schlüsse darüber zu, wie sich die Arbeitsbelastung entwickelt hat. «Die Aussage, dass beispielsweise in der Pflege weniger gearbeitet wird, stimmt sicher nicht», sagt sie. Die Zahlen zeigten zwar eine Verkürzung der Arbeitszeit pro Vollzeitstelle. Die Belastung steige aber: «Bei steigenden Patientenzahlen müssen die Pflegefachleute immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit pflegen. Das sorgt für massiven Druck», so Ribi. Betriebe seien daran interessiert, dass die Angestellten möglichst wenig Überstunden machten und die Produktivität so hoch wie möglich sei. So fühlten sich die Mitarbeiter immer gestresster. «Mehr Zeit für Patienten zu haben und weniger Produktivitäts-Druck wäre ganz wichtig», sagt Ribi.
Tijana Nikolic