Der Konsum von Bio-Lebensmitteln steigt weiter an. Dies geht aus einer Auswertung der Haushaltsbudgeterhebung durch Agroscope hervor
Während 2006 erst 6,5 Prozent aller Ausgaben im Lebensmittelbereich für Bio-Produkte verwendet wurden, waren es 2011 bereits 8 Prozent», sagen Franziska Götze und Ali Ferjani, Mitarbeitende von Agroscope, in einer Medienmitteilung. Bio-Produkte mit einem bereits hohen Marktanteil wie Gemüse und Früchte sowie Milchprodukte und Eier konnten diesen weiter steigern. Der Marktanteil von Bio-Gemüse wuchs von 9 auf 14 Prozent, jener von Bio-Früchten von 9 auf 11 Prozent. Produkte mit verhältnismässig geringem Bio-Markt-Anteil konnten dagegen nur wenig zulegen. So blieb der Bio-Markt-Anteil von Fleisch, Saucen und Gewürzen von 2006 bis 2011 mit rund 5 Prozent beinahe unverändert. Auch Bio-Zucker und -Süsswaren kamen mit einem Plus von 0,4 Prozent nicht über einen Anteil von 3 Prozent hinaus. Das Bundesamt für Statistik (BfS) erhebt seit Beginn der 1990er Jahre Daten zu Einkommen und Konsum sowie zu den soziodemografischen Charakteristika von Schweizer Privathaushalten. Seit dem Jahr 2000 wird diese Erhebung monatlich durchgeführt. Für die Befragung werden die Haushalte per Zufallsverfahren ausgewählt. Etwa 3000 Haushalte pro Jahr nehmen teil. Dabei wird darauf geachtet, dass die Struktur der Haushalte im Datensatz die ständige Schweizer Wohnbevölkerung repräsentativ widerspiegelt. Die Teilnahme der Haushalte an der Befragung beschränkt sich auf einen Monat. Die Auswertung von mehr als 19 000 Datensätzen gibt auch Aufschluss über das Konsumverhalten. Dabei ist laut Götze und Ferjani auffällig, dass Haushalte mit Kindern seltener Bio-Lebensmittel kaufen. Dies stehe im Gegensatz zu bisher veröffentlichten Daten aus anderen Ländern.
Gemäss Erhebung kaufen Frauen eher Bio-Produkte als Männer. Dasselbe trifft auf wohlhabende Haushalte zu. Tendenziell werden mit steigendem Einkommen mehr Bio-Lebensmittel konsumiert. Einen grossen Einfluss hat auch die Sprachregion: Ein Haushalt in der Deutschschweiz kauft tendenziell mehr Bio-Produkte als einer in der Westschweiz. Personen zwischen 45 und 54 Jahren konsumieren gemäss der Untersuchung besonders selten Bio-Produkte.
Essen als neue Religion
Keine Laktose, kein Gluten, keine Fructose. Kein Käse, kein Honig, kein Fleisch. Alles böse – gemäss der einen oder anderen derzeit angesagten Ernährungs-Ideologien. Essen, was schmeckt? Gott bewahre! Allenthalben lauern Gefahren: Der Körper könnte es einem übelnehmen, wenn man ihm unreflektiert Schokolade oder Spaghetti Bolognese zuführt. Ausserdem werden damit Tiere, fühlende Lebewesen, für unsere kulinarischen Bedürfnisse als Eier- und Milchgeber ausgebeutet oder sogar getötet. Essen ist kompliziert geworden. Während uns früher noch der persönliche Geschmack und die Saison beim Einkauf im Supermarkt leiteten, dirigieren uns heute allerlei normative Vorstellungen. Hemmungslos schlemmen ist nicht mehr erlaubt, bedenkenlos sich den Bauch mit süssen und fettreichen Leckereien zu füllen, gehört sich nicht. Wer sich dagegen sogenannt gesund ernährt, auf Tiere und die Umwelt Rücksicht nimmt, darf sich seiner moralischen Überlegenheit gewiss sein. Denn um eines höheren Gutes willen übt er Verzicht. Verächtlich blickt der Veganer auf den Fleischesser, diesen herzlosen und rückständigen Tiermörder, und schon Schulkinder wissen, dass Dicke undiszipliniert, hässlich und dumm sind.
Identität steht auf dem Spiel
Wer sich eine doppelte Portion Dessert schmecken lässt, bekennt anderntags kleinlaut, gesündigt zu haben und tut Busse im Fitnessstudio oder auf der Finnenbahn. Anleitungen zum richtigen Leben und Speisen versprechen die «Veganer-Bibel» oder die «Fett-weg-Bibel». In unzähligen Kochshows demonstrieren uns engelgleiche Fernsehköche, wie man sich bewusst ernährt. Askese bewirkt Heil, Verzicht verspricht Erlösung, denn in der Nahrung versteckt sich das Böse, und allein, was das Suffix «-frei» auf der Verpackung trägt, glauben wir, ohne schlechtes Gewissen verzehren zu dürfen. Doch knüpfen wir in unserem eifernden Bemühen um die gefällige Ernährung nicht bloss an die einstigen Fastenvorschriften der Religionen an. Schon Adam und Eva war ein Speiseverbot auferlegt. Doch verzehrten sie die verbotene Frucht und fielen durch diese Rebellion gegen Gott in Sünde. Viele Religionen kennen Speisevorschriften, denn sie stärken den Zusammenhalt, indem sie eine gemeinsame Identität stiften. Mehr steht bei der Moralisierung des Essens auf dem Spiel, nämlich unsere Identität: Wer wir sind und wer wir sein wollen. Jemand, der von Zeit zu Zeit bei McDonald’s einkehrt und sich also weder um seine Gesundheit noch um seine Umwelt sonderlich schert? Oder einer, der vom samstäglichen Gang auf den Markt oder zum Biobauern Gemüse aus der Region und Fleisch von glücklichen Kälbern mitbringt? Essen ist im Wortsinne Lebens-Mittel. Ohne können wir nicht sein. Darum fällt es leicht, seine Identität auch darüber zu definieren, was man zu sich nimmt. «Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist», wusste schon der Philosoph und Gastronomiekritiker Jean Anthelme Brillat-Savarin 1826.
Sehr wichtig: Die Selbstinszenierung
Mit der Identität allein ist es freilich nicht getan, die Selbstinszenierung gehört dazu. Und so wird die Speise fotografiert, bevor sie in unsere Mägen wandert, damit in den sozialen Netzwerken dokumentiert werden kann, wie gut wir uns doch ernähren. Diese Zurschaustellung des Lebensstils muss sein, denn damit markieren wir unseren gesellschaftlichen Status: Konsumentin von laktosefreien Bioprodukten und Vegetarierin – eine reflektierte und sensible Zeitgenossin, gesund zumal und besorgt um die Umwelt! Anhänger der Paläo-Diät, der sich ernähren will, wie es seine Vorfahren in der Steinzeit taten, von Fleisch, Beeren und Nüssen – ein echter Kerl, kompromisslos, naturverbunden, sicherlich auch sportlich! Auch eine kleine Unverträglichkeit gehört dabei heute zum guten Ton. Weit mehr Menschen vermuten eine Gluten- oder Laktose-Intoleranz bei sich, als tatsächlich darunter leiden. Doch für die eigene Gesundheit nimmt man die Zumutung gerne auf sich, nicht zu dürfen – das duftende Brot, der Milchschaum auf dem Cappuccino. Tatsächlich steckt wohl eher dahinter, dass sich im Dickicht widersprüchlicher Ernährungsempfehlungen kein Mensch mehr zurechtfindet. Etwas vermeintlich nicht zu vertragen, kaschiert erfolgreich die Verunsicherung. Was all den Ernährungsoptimierern gemein ist: Sie demonstrieren die Kontrolle über den eigenen Körper. Sind schlank und gesund, sehen jung und durchtrainiert aus. Seinen Körper zu kontrollieren, bedeutet, sein Leben im Griff zu haben. Und diese Botschaft will vermitteln, wer sich als ernährungsmässig Geläuterter präsentiert und sich nun auf einer Mission zu den uneingeweihten Fresssäcken weiss. Denn die Festlegung auf eine Diät dient auch der Abgrenzung. Mit Nahrungsmitteln, die mit dem Label «Bio» oder «-frei» geschmückt sind, markieren wir unsere Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Aufgeklärten und Fortschrittlichen. Dass Essen auch Genuss bedeutet, geht leicht vergessen, wenn man glaubt, sich zum Dessert nur ein winziges Löffelchen Crème brulée gönnen zu dürfen oder mit dem Caffè Latte am Nachmittag beinahe schon zu völlern. Vor allem aber rückt in den Hintergrund, was es noch ist: ein soziales Ereignis. Drum vergessen wir doch lieber die vielen Ernährungsregeln und besinnen uns auf den alten Epikur, der sagte: «Man muss eher prüfen, mit wem man isst und trinkt, als was man isst und trinkt.»