Wahlberechtigte mit ausländischen Wurzeln werden in diesem Wahlkampf von den Parteien umgarnt. Kein Wunder: Das Wählerpotenzial dieser Gruppe ist längst nicht ausgeschöpft
Der «Gewählten Stimme», einem Zusammenschluss von kommunalen und kantonalen Ratsmitgliedern mit Migrationshintergrund, reichen diese Bemühungen nicht. «Menschen, die ihre Wurzeln im Ausland haben, werden in der Schweiz politisch zu wenig eingebunden. Sie sind gerade im nationalen Parlamentsbetrieb stark unterrepräsentiert. Häufig treten sie auf den hinteren Listenplätzen an – oder in Kantonen, in denen die Partei gar keine Sitze hat», sagt deren Sekretär Ron Halbright, ein in der Integration tätiger und in den USA aufgewachsener Schweizer. Die Mehrheit der Parteien nehme Migranten nur zur Imagepflege und als Stimmenlieferanten auf ihre Listen, «die meisten dieser Kandidaturen sind völlig chancenlos», kritisiert auch Rupan Sivaganesan. Der Zuger Kantons- und Gemeinderat (SP) mit tamilischen Wurzeln ist Koordinator der «Gewählten Stimme» – und selbst ein Beispiel für eine gelungene politische Karriere. Seine Organisation will nun an einer Tagung im September Empfehlungen für die Parteien erarbeiten, wie sie Migranten auf die politischen Ämter vorbereiten und «wählbar» machen können.
Ein unfaires Spiel
Gegen den Vorwurf der Alibiübung wehren sich die Parteien. Übereinstimmend heisst es in den Parteizentralen, alle Kandidaten würden gleich behandelt – ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Ein aussichtsreicher Listenplatz müsse zuerst erarbeitet werden. Das bestätigt der Politologe Nenad Stojanovic von der Universität Luzern: «Eine echte Wahlchance hat nur, wer die Ochsentour auf lokaler und kantonaler Ebene absolviert hat, dossierfest und bereits bekannt ist.» Georg Lutz, Politologe an der Universität Lausanne, relativiert zudem den Begriff «Alibikandidatur». «Bei 3500 Kandidaten für 200 Sitze ist die grosse Mehrheit völlig chancenlos.» Allerdings hätten Migranten durchaus Hindernisse zu bewältigen, denn die Diskriminierung finde anderswo statt: an der Urne. «Wer einen ausländischen Namen hat, ist in der Politik im Nachteil.» Studien weisen darauf hin, dass Kandidaten mit einem ausländisch klingenden Nachnamen deutlich weniger Stimmen holen als Personen mit einem Schweizer Namen. So ergab etwa eine Untersuchung der Zürcher Kantonsratswahlen 2011 und der Genfer Grossratswahlen 2014, dass Kandidaten mit ausländischen Namen öfter von den Listen gestrichen und seltener kumuliert oder panaschiert wurden. Dieses Wählerverhalten ist keine Frage der politischen Einstellungen: Linke Wähler hätten Kandidaten mit ausländischen Namen nur geringfügig weniger als jene von Mitte- oder Rechtsparteien diskriminiert, stellten die Politologen der ETH Zürich und der Universität Lausanne fest. Ob diese Effekte auch auf nationaler Ebene festzustellen sind, wurde bislang nicht untersucht. Stojanovic wird dies anhand der kommenden Nationalratswahlen erstmals erforschen.
SP hoch im Rennen, doch CVP kämpft um Kosovaren
Den Parteien ist diese Untervertretung durchaus bewusst – auch das ein Grund, warum sie zunehmend Migranten als Kandidaten aufstellen. Die Sozialdemokraten gehen dabei voran: Rund 30 Prozent ihrer Kandidaten für die nationalen Wahlen haben ihre Wurzeln im Ausland. Mit den SP-MigrantInnen hat die Partei zudem seit drei Jahren eine überkantonale Sektion, die sich für eine bessere Vertretung ausländischer Kandidaten auf den Wahllisten einsetzt. Das Engagement kommt nicht von ungefähr: Eine Studie des Politologen Oliver Strijbis zeigte letztes Jahr, dass die SP bei Wählern mit ausländischen Wurzeln die beliebteste Partei ist. Bei den Nationalratswahlen 2011 holte sie 24 Prozent der Stimmen der eingebürgerten Schweizer – ein deutlich höherer Wert als ihr realer Wähleranteil von 18,7 Prozent.
Auch die Grünen und die Grünliberalen sind erfolgreich bei Migranten. Erstere treten dieses Jahr in Zürich mit einer Secondo-Wahlliste an; in Zürich und Basel-Stadt stehen zudem mit Elena Marti und Sibel Arslan zwei Frauen mit Migrationshintergrund auf den ersten Listenplätzen. Aber auch die bürgerlichen Parteien profitieren von den Stimmen der Eingebürgerten: Die zweitstärkste Partei in dieser Wählergruppe war 2011 mit 22 Prozent die SVP. Die Volkspartei, die sonst einen wenig zimperlichen Umgang mit Ausländern hat, ist sich des Potenzials bewusst: «Selbstverständlich haben wir auch Kandidaten mit Migrationshintergrund auf unseren Wahllisten. Migranten sind ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Als Volkspartei möchten wir alle Bevölkerungsschichten ansprechen», sagt Generalsekretär Martin Baltisser. Auffallend ist in diesem Wahlkampf zudem die CVP: Sie wirbt aktiv um die Stimmen der grossen kosovarischen Diaspora. Schlagzeilen machte die Partei jüngst mit der Nationalratskandidatur von Keshtjella Pepshi, einer ehemaligen Miss Kosovo, im Kanton Bern. Mindestens elf Kandidaten mit kosovarischen Wurzeln treten im Herbst auf den CVP-Listen an. Dass viele von ihnen Muslime sind, ist für die Christdemokraten kein Hindernis, wie Generalsekretärin Beatrice Wertli sagt: «Primär zählt für uns, dass unsere Kandidaten die Werte der CVP teilen. Die Konfession spielt dabei keine Rolle.»
Wer sind diese Leute?
Schätzungsweise 20 Prozent des Schweizer Wahlvolks haben einen Migrationshintergrund. Das sind etwa eine Million Personen. Ihre Wahlbeteiligung liegt aber bis jetzt deutlich unter dem Durchschnitt. Das wollen die Parteien nun ändern – und schicken als Stimmenfänger zahlreiche Migranten ins Rennen um die Nationalratssitze. Die Faktenlage zum Thema ist allgemein dünn. Wie viele Personen mit ausländischen Wurzeln zurzeit schweizweit politisieren, ist zum Beispiel schwierig zu bestimmen. Zum einen führen die Parteien darüber keine Statistiken. Zum anderen ist die Definition unscharf: Was gilt als Migrationshintergrund – ein ausländischer Vater, eine Einbürgerung, eine Geburt im Ausland? Werden etwa im nationalen Parlament jene Nachnamen als ausländisch definiert, die erst nach 1939 erstmals im Schweizer Familiennamenbuch eingetragen wurden, so sind gemäss Stojanovic zurzeit lediglich 16 Parlamentarier ausländischer Herkunft. Nicht erfasst sind dabei allerdings Politikerinnen wie Yvette Estermann (SVP); die gebürtige Slowakin hat den Nachnamen ihres Gatten angenommen.
Quelle: (Tagesanzeiger.ch/Newsnet)
Tijana Nikolic