Bund, Kantone und Betreiber haben sich geeinigt, welcher mögliche AKW-Unfall als Basis für die Notfallplanung dient
Die Katastrophe von Fukushima machte in der Schweiz die Notfallplanung für AKW-Unfälle obsolet. Denn hier hatte man sich bloss auf sehr viel schwächere Unfälle vorbereitet. Der Bundesrat versprach eine rasche Überarbeitung – doch diese zog sich in die Länge. Eine Hauptursache war, dass sich Bund, Kantone, Atomaufsicht und AKW-Betreiber nicht auf das AKW-Unfallszenario einigen konnten, welches als Basis für die Notfallplanung dienen soll. Der Grund für den Streit liegt auf der Hand: Je schwerer der angenommene Unfall, desto teurer und schwieriger ist die Notfallplanung. Am Donnerstag haben sich nun Vertreter von Behörden und Betreibern unter der Leitung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (Babs) auf einen Kompromiss geeinigt. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) hatte sechs mögliche AKW-Unfälle durchgerechnet. Laut zuverlässigen Informationen einigte man sich am Donnerstag auf das Szenario A4. Es ist ein klassischer Mittelweg: Der angenommene Unfall ist erheblich schwerer als der bisherige Referenzunfall, aber er ist hundertmal schwächer als jener im Ensi-Szenario A6. Der Strategiechef im Babs, Alexander Krethlow, bestätigt auf Anfrage: «Nach sehr langen Verhandlungen konnten wir uns am Donnerstag auf ein Referenzszenario einigen, das als Grundlage für die Notfallschutzmassnahmen dient.» Dass es sich dabei um das Szenario A4 handelt, bestätigt Krethlow nicht. Er sagt lediglich: «Wir wählten ein Szenario mit einem erheblichen Austritt von Radioaktivität, aber nicht das extremste Szenario, welches das Ensi durchgerechnet hat.»
Vorsorgliche Evakuation
Die Organisation Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (Aefu), die sich seit langem mit der AKW-Notfallplanung befasst, kritisiert die Einigung auf ein mittleres Szenario. «Es geht darum, einer möglichen Gefahr ins Auge zu schauen», sagt Aefu-Geschäftsleiter Martin Forter, «Kompromisse sind da nicht zulässig.» Fukushima habe zudem gezeigt, dass radioaktiv verseuchtes Abwasser ein grosses Problem sei. «Bei uns würde dieses nicht ins Meer, sondern in Flüsse und Seen fliessen. Dennoch wurde dieses Problem bisher nicht angepackt.» Auch der bernische Regierungsrat forderte am Donnerstag in seiner Stellungnahme zur Notfallplanung «ein Konzept über die Trinkwasserversorgung in Störfällen mit schwerer Verstrahlungslage». Mit der neuen Notfallplanung werden erstmals auch frühzeitige Evakuationen in der Zone 2, im Radius von 20 Kilometern um die AKW, geplant. Bisher war dies nur in der kleinen Zone 1 vorgesehen. In der Zone 2 um das AKW Mühleberg zum Beispiel leben eine halbe Million Menschen, darunter die Einwohner der Grossregion Bern. «Hier sehen wir neu die Möglichkeit von vorsorglichen Evakuationen vor», sagt Krethlow. Das heisst: Die Bewohner sollen aus dem betroffenen Gebiet evakuiert werden, bevor die strahlende Wolke aus dem AKW austritt. Allerdings grenzt Krethlow dies ein.
«Wir können nicht eine halbe Million Menschen auf Knopfdruck evakuieren.» Konkret würden nur jene Gebiete evakuiert, die voraussichtlich von der Wolke betroffen wären. Anordnen würde dies der Bundesrat. Und auch dies nur unter einer Bedingung. «Der Werkbetreiber muss verbindlich zusichern können, wie lange es dauert, bis Radioaktivität in die Umgebung entweicht.» Falls dies unklar ist oder der Unfall schnell abläuft, gelte die bisherige Devise: Dass die Menschen sofort in ihre Keller, wenn möglich in Schutzräume gehen. Evakuiert würden sie dann erst, nachdem die radioaktive Wolke vorbeigezogen ist. Auch eine Evakuation im Voraus in der Zone 2 würde aber nicht so ablaufen wie 1986 in Tschernobyl, wo der Staat die Menschen in Bussen abtransportieren liess. Gemäss dem neuen schweizerischen Konzept würden die Menschen selber fortgehen. «Wir erwarten, dass rund zwei Drittel im eigenen Auto wegfahren», sagt Krethlow. Das werde zwar zu Staus führen, räumt er ein. «Laut Simulationsstudien der ETH liesse sich die Verkehrslage aber bewältigen.» Von den Nicht-Autofahrern erwarte man, dass sie das gefährdete Gebiet mit dem öffentlichen Verkehr verlassen. «Dieser wird so normal wie möglich funktionieren», sagt Krethlow. Laut Strahlenschutzverordnung könnten Verkehrsbetriebe und Fahrer zum Einsatz verpflichtet werden. Die Evakuation würde also auf «der Eigenverantwortung der Bevölkerung basieren», wie Krethlow sagt. Er zeigt sich überzeugt, dass dies «auf der Grundlage der entsprechenden Planungen» funktionieren werde. «Der Überlebenswille der Menschen ist stark.»