Das hauchdünne Ja des Schweizer Stimmvolks zur Erhöhung der Mehrwertsteuer für die Invalidenversicherung interpretiert die Schweizer Presse fast einhellig: Der Druck auf dem Sozialwerk bleibt bestehen, die Arbeit hat eben erst begonnen.
“IV unter hohem Sanierungsdruck”, “Nach knappem IV-Ja steigt Druck auf Renten”, “Die schwierigste Etappe kommt erst” – so lauten einige Zeitungsschlagzeilen am Morgen nach der Abstimmung.
“Nun beginnt das Ringen um die 6. IV-Revision”, titelt die Basler Zeitung. Zwar sei der Entscheid knapp ausgefallen, aber trotzdem ein klares Signal.
“Das Stimmvolk ist einerseits bereit, trotz Wirtschaftskrise ein finanzielles Opfer zu bringen und der arg gebeutelten Invalidenversicherung eine siebenjährige Verschnaufpause zu gewähren. Andererseits erwartet es von der Politik, dass sie den eingeschlagenen Sanierungsweg auch ausgabenseitig weiter beschreitet.”
Die Westschweizer Zeitung Le Temps ist der Meinung, dass eine solche Solidarität des Stimmvolks in anderen Ländern undenkbar wäre. “Die Schweizer nehmen eine Steuererhöhung auf sich, um ihre Sozialversicherungen zu retten. Indem sie dieses schwierige Projekt angenommen haben, haben das Stimmvolk und eine Mehrheit der Kantone eine grosse Reife bewiesen.”
Die Invalidenversicherung (IV) sei mit dem Entscheid aber noch nicht saniert, gibt der Kommentator des Tages Anzeigers zu bedenken. Der Spardruck auf dem Sozialwerk bleibe hoch.
“Bis 2018 muss die Rechnung der IV so weit verbessert werden, dass sie ohne die 0,4 Prozent Mehrwertsteuer auskommt. Tausende der heutigen Rentner müssen wieder in den Arbeitsprozess integriert werden.”
Wirtschaftskrise und steigende Arbeitslosigkeit erschwerten diese Integration während der kommenden Jahre massiv, so der Tagi. “Die Arbeitgeber stehen deshalb in der Pflicht, trotz schlechter Wirtschaftslage auch nicht voll leistungsfähige Menschen anzustellen. Tun sie dies nicht, fällt die IV 2018 in die Defizitwirtschaft zurück. Der Slogan ‘Arbeit vor Rente’ wird zur Farce.”
Keine Verschnaufpause
Wer angesichts des Abstimmungsergebnisses aufschnaufe, entspanne sich zu früh, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. “Bei der IV folgt keine Erholungspause, sondern gleich die 6. Revision, die bei den Ausgaben ansetzen muss. Noch viel Arbeit steht an, um den Tanker ‘IV’, der sich nicht so behende wie ein kleines Schiff wenden lässt, auf einen nachhaltig finanzierten Kurs zu lenken.”
Die IV jedoch sei nur eines der Probleme in der Sozialpolitik, so die NZZ weiter. “In den kommenden Jahren verlangt die Situation der Sozialversicherungen insgesamt höchste Aufmerksamkeit – und Korrekturen. Die Arbeitslosenversicherung türmt Milliardenschulden auf, die Erwerbsersatzordnung schreibt wegen der Mutterschaftsversicherung Fehlbeträge, und die Aussichten der AHV sind ohnehin alles andere als rosig.”
Und für den Kommentator ist klar, wo die Politik bei diesen Problemen ansetzen muss: Mit einer Schuldenbremse für die Sozialversicherungen: “Das tatenlose Zuschauen, das man sich bei der IV über Jahre erlaubte, darf sich bei den anderen Sozialversicherungen nicht wiederholen.” Der neue Innenminister Didier Burkhalter habe zu dieser Idee bereits “Zustimmung signalisiert”.
Burkhalter gefragt
Bundesrat Burkhalter stehe nun in der Pflicht, die 6. IV-Revision voranzutreiben, betont die Berner Zeitung in ihrem Kommentar unter dem Titel “Ein Etappensieg”. “Das wird keine einfache Aufgabe sein.”
Rechtsbürgerliche Politiker würden schon heute Wetten eingehen, dass das jährliche Defizit bis 2018 nicht aus dem Weg geräumt sein werde, so die BZ. “Didier Burkhalter und seine Mitstreiter im Parlament werden nun dafür sorgen müssen, dass die Abstimmungsgegner der SVP nicht Recht behalten. Immer unter der Voraussetzung, dass die Leute, welche aus gesundheitlichen Gründen wirklich keiner Arbeit nachgehen können, nicht die Leidtragenden sind.”
Klarer Auftrag
Das knappe Ja sei vor allem ein Auftrag an die Verantwortlichen der IV, schreibt die Aargauer Zeitung. “Erstens müssen sie den Missbrauch noch härter bekämpfen – bei Rentenbezügern im In- und Ausland. Denn jeder Missbrauch schadet der IV nicht nur finanziell, sondern auch ideell. Zweitens müssen sie konsequenter darauf hinwirken, dass erkrankte und verunfallte Personen im Arbeitsleben bleiben können – anstatt eine IV-Rente zu beziehen. Und drittens müssen sie versuchen, jüngere IV-Rentner wieder zurück in die Arbeitswelt zu bringen – notfalls auch mit Druck.”
Dabei sei auch die Mitarbeit der Arbeitgeber gefragt: “Sie müssen jenen eine Chance geben, die nicht zu hundert Prozent leistungsfähig sind. Nur so kann es gelingen, dass die IV in sieben Jahren ohne Zusatzeinnahmen wieder schwarze Zahlen schreibt.”
Gelbe Karte
Die Tribune de Genève liest das knappe Ergebnis nicht als antisolidarisch mit den Behinderten, sondern vielmehr als Fingerzeig an die Behörden. Sie hätten zu lange unprofessionell bei der Vergabe von Renten agiert.
“Dieses ‘ja, aber’ ist ein klares Zeichen an den neuen Minister Didier Burkhalter: Die Anstrengungen der letzten Jahre, die zu einer drastischen Senkung von Neurenten geführt haben, müssen fortgeführt werden.”