«In die Schweiz reisen» («going to Switzerland») ist in Grossbritannien zu einer euphemistischen Redewendung geworden
Sie bedeutet: In die Schweiz fahren, um Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Die Sterbehilfe-Regulierung der Schweiz führt dazu, dass immer mehr ausländische Suizidwillige hierher reisen. Nicht in allen Fällen sind diese todkrank. Zwischen Anfang 2008 und Ende 2012 haben sich 126 Briten bei der Selbsttötung in der Schweiz – genauer: im Kanton Zürich – assistieren lassen. Denn anders als in der Schweiz ist in Grossbritannien und den meisten anderen Staaten Sterbehilfe verboten. Mehr «Sterbehilfe-Touristen» sind in derselben Zeitspanne lediglich aus Deutschland in die Schweiz gereist, nämlich 268. Insgesamt verzeichnete man 611 Fälle. Dies geht aus einer im «Journal of Medical Ethics» veröffentlichten Studie hervor, in der Daten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich ausgewertet wurden. Dieses Institut ist massgeblich an der Aufklärung von Suizidfällen beteiligt. Die Autoren stammen vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich, vom dortigen Kompetenzzentrum «Medizin – Ethik – Recht Helvetiae» sowie vom Psychiatriezentrum Münsingen. Die Studie ist Teil einer laufenden Untersuchung, welche die letzten 30 Jahre der Sterbehilfe-Praxis unter die Lupe nimmt. Die Autoren kommen zu einigen klaren Ergebnissen. So ist die Anzahl der Fälle von Sterbehilfe-Tourismus zwischen 2008 und 2012 von 123 auf 172 angestiegen. Während die Zahl der Suizidwilligen aus Grossbritannien zwischen 23 und 29 pro Jahr pendelte, ist sie bei den aus Deutschland angereisten Menschen von 59 auf 77 angewachsen (mit einer Baisse in den Jahren 2009 und 2010). 66 Sterbehilfe-Touristen stammten aus Frankreich. Auffällig ist die Entwicklung in Italien: Verzeichnete man 2008 lediglich 2 Fälle von dort, waren es 2012 bereits 22 (insgesamt 44). Doch nicht nur die Zahl von Sterbehilfe-Touristen hat zugenommen. Auch der Kreis der Länder, aus der die Menschen anreisen, vergrössert sich. Aus 31 Staaten, darunter etwa Simbabwe und Malaysia, sind Sterbewillige hierher gekommen.
Touristen in jedem Alter, jedoch prozentual mehr Frauen
58,5 Prozent der Sterbehilfe-Touristen sind Frauen. Dies deckt sich zwar mit anderen Sterbehilfe-Studien, steht aber im Gegensatz zur Tatsache, dass sich insgesamt häufiger Männer als Frauen das Leben nehmen. Die 611 Sterbehilfe-Touristen waren zwischen 23 und 97 Jahre alt (Median bei 69 Jahren). Hauptgründe für die Reise in die Schweiz sind neurologische Erkrankungen (47 Prozent), es folgen Krebs (37 Prozent) sowie rheumatische und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. 28 Prozent der Personen gaben an, an mehr als einer Krankheit zu leiden. Die Studienautoren kommen zum Schluss, dass immer mehr Menschen mit nicht fatalen Krankheiten Sterbehilfe in Anspruch nehmen würden. Mit Ausnahme von vier Fällen, an denen die Sterbehilfeorganisation Exit beteiligt war, wurden die Suizidwilligen durch Dignitas betreut. In der Regel starben die Menschen durch Einnahme von Natrium-Pentobarbital, in vier Fällen durch Inhalieren von Helium. Die Autoren vertreten die These, dass das Phänomen des Sterbehilfe-Tourismus in die Schweiz zu Rechtsanpassungen in anderen Ländern – insbesondere in Deutschland, Grossbritannien und Frankreich – führen wird. Entsprechende politische Debatten finden derzeit vor allem in England statt. In Österreich sieht die rechtliche Lage ähnlich aus wie in Deutschland: Die passive und die indirekte Sterbehilfe sind erlaubt, sofern sie den Wunsch des Sterbenden widerspiegeln. Auch in Österreich können Patientenverfügungen verfasst werden, deren Erklärungen bindend sind. Allerdings ist auch dort die aktive Sterbehilfe strafbar – und anders als in Deutschland ist die Beihilfe zum Suizid eindeutig nicht erlaubt, sie wird wie die aktive Sterbehilfe bestraft. In den USA hingegen gibt es keine einheitliche Regelung zur Sterbehilfe: Die einzelnen Bundesstaaten sind selbst verantwortlich für die entsprechenden Gesetze. In keinem Staat ist aktive Sterbehilfe erlaubt, nur wenige Staaten tolerieren die Beihilfe zum Suizid.
Auch Deutschland debattiert aktiv in dieser Sache
Die Debatte über Sterbehilfe gehört zu den wichtigsten Themen in Deutschland. Die europäischen Länder gehen sehr unterschiedlich mit dem Thema um. In Deutschland spricht sich Gesundheitsminister Hermann Gröhe für ein Gesetz aus, das jede Form der organisierten Selbsttötung verbietet. Doch einer Umfrage zufolge können sich 55 Prozent der Deutschen vorstellen, ihrem Leben im Alter aufgrund von schwerer Krankheit, langer Pflegebedürftigkeit oder Demenz selbst ein Ende zu setzen. Zwei Drittel der Deutschen sprachen sich in einer weiteren Umfrage für aktive Sterbehilfe aus. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe möchte “jede geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellen”. Der Vorstoß richtet sich vor allem gegen Vereine wie Dignitas oder Sterbehilfe Deutschland. Damit geht er noch einen Schritt weiter als die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die ein Verbot der gewerbsmäßigen Sterbehilfe gefordert hatte. Geht es nach Gröhe, werden künftig aber auch Vereine und Organisationen, die assistierten Suizid ohne Gewinnstreben ermöglichen, in das Verbot eingeschlossen. Gröhe will als Gesundheitsminister die Palliativmedizin und das Hospizwesen weiter ausbauen. Unterstützung bekommt er von der Bundesärztekammer, der katholischen Kirche und der Deutschen Stiftung Patientenschutz.
Formen der Sterbehilfe
Aktive Sterbehilfe: Der Tod eines Menschen wird absichtlich und aktiv herbeigeführt. Zum Beispiel, indem ein Arzt eine tödliche Dosis Medikamente verabreicht. Diese Form der Sterbehilfe ist in Deutschland verboten (Tötung auf Verlangen oder Totschlag oder gar Mord).
Assistierte Selbsttötung: Eine Person leistet Beihilfe zum Suizid, etwa durch Beschaffung eines tödlichen Mittels. Der Patient muss es selbständig einnehmen, bei der Handlung darf nicht einmal jemand seine Hand führen. Beihilfe zum Suizid ist in Deutschland nicht strafbar. Ärzten drohen theoretisch jedoch berufsrechtliche Konsequenzen bis hin zum Entzug der Approbation: “Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten”, heißt es in Paragraf 16 der Muster-Berufsordnung, wie sie als Empfehlung vom Deutschen Ärztetag beschlossen wurde. Allerdings spielt das in der Praxis keine Rolle. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, kann sich laut SPIEGEL an keinen Fall erinnern, in dem es in den vergangenen Jahren zum Entzug der Approbation gekommen wäre.
Indirekte aktive Sterbehilfe: Ein Arzt verabreicht einem Patienten auf dessen Wunsch hin schmerzlindernde Medikamente, zum Beispiel Morphin. Eine lebensverkürzende Wirkung wird in Kauf genommen, ist aber nicht beabsichtigt. Diese Form ist in Deutschland straflos, aber die Grenze zur aktiven Sterbehilfe ist fließend.
Passive Sterbehilfe: Lebensverlängernde Maßnahmen wie zum Beispiel künstliche Ernährung werden auf Wunsch des Sterbewilligen eingestellt. Er erhält eine schmerzlindernde Behandlung, die Grundpflege und Seelsorge werden beibehalten. In Deutschland ist diese Form bei entsprechendem Patientenwillen straflos.
In Deutschland haben Volljährige die Möglichkeit, in einer Patientenverfügung im Voraus schriftlich festzulegen, ob und wie sie in bestimmten Situationen ärztlich behandelt werden möchten (Paragraf 1901a, Bürgerliches Gesetzbuch). Diese Angaben sind – sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind – für Ärzte verbindlich. Ausführliches Info-Material stellt das Justizministerium zur Verfügung.
Die Alternativen
Gegner von Sterbehilfe fürchten, dass alte und kranke Menschen sich bei einer prinzipiellen Ausweitung der Sterbehilfe unter Druck gesetzt fühlen könnten. Sie fordern eine stärkere Nutzung der Palliativmedizin. Diese kommt bei unheilbar kranken Patienten mit begrenzter Lebenserwartung zum Einsatz. Es geht vor allem darum, die Beschwerden und Schmerzen des Kranken zu mildern und ihm “durch bestmögliche Unterstützung im Sterben mehr Leben zu geben”, wie die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin schreibt. Das Sterben solle nicht aufgehalten werden. Allerdings fordert Michael de Ridder, einer der bekanntesten Vertreter der Palliativmedizin, als letztes Mittel auch die Zulassung ärztlicher Beihilfe zum Suizid – wenn ein Patient trotz aller palliativer Maßnahmen weiterleidet und den Tod frei verantwortlich und nachhaltig wünscht.
Was spricht dafür und was dagegen?
Befürworter und Gegner der Sterbehilfe beharren auf ihren Argumenten. Die Gegner führen an, dass es nicht rechtens sei, über Leben und Tod zu entscheiden. Außerdem verbiete der Hippokratische Eid Ärzten, Sterbehilfe zu leisten. Ein Argument gegen Sterbehilfe, das immer wieder genannt wird: Die Schmerztherapie sei mittlerweile sehr wirkungsvoll, sodass der Patient bis zum natürlichen Lebensende nicht leiden müsse. Zudem sei das Netz an Hospizdiensten so dicht, dass das Sterben menschenwürdig gestaltet werden könne. Die Befürworter hingegen sind der Meinung, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, über seinen eigenen Todeszeitpunkt und die Todesart selbst zu entscheiden. Darüber hinaus würde eine klare rechtliche Regelung, die die Sterbehilfe erlaube, eine verlässliche Grundlage für Mediziner bilden. Sie könnten dann die entsprechenden Medikamente auf jeden Fall straffrei verschreiben. Damit würde das Leiden von unheilbar Kranken verkürzt werden, so das Argument der Befürworter.
Aktive Sterbehilfe bei Kindern
Sollen auch unheilbar kranke Kinder selbst entscheiden können, ob sie ihrem Leben ein Ende setzen wollen oder nicht? Kritiker meinen, Minderjährige besäßen noch nicht die geistige Reife, um solch eine folgenschwere Entscheidung zu treffen. Zudem könnten sie sich genötigt fühlen, diesen Schritt zu gehen, um ihren Eltern nicht weiter zur Last fallen zu wollen. Anstelle legaler Sterbehilfe fordern Kritiker, mehr und bessere Betreuungsangebote für sterbenskranke Kinder und ihre Familien zu schaffen. Befürworter halten dagegen, dass die jungen Patienten oft einen langen Leidensweg hinter sich hätten. Nach zahlreichen Therapien, die keine Wirkung gezeigt hätten, sei der Tod für viele eine Erlösung. Zudem seien die betroffenen Kinder meist weiter entwickelt als andere Jungen und Mädchen in ihrem Alter und daher in der Lage, diese Entscheidung selbst zu treffen. In den Niederlanden ist Sterbehilfe für Kinder ab zwölf Jahren bereits möglich. In Belgien soll im Mai 2014 ein Gesetz in Kraft treten, dass die aktive Sterbehilfe bei unheilbar kranken Kindern erlaubt – ohne Altersbeschränkung. Allerdings nur in bestimmten Fällen: etwa wenn die Kinder unter starken Schmerzen leiden und es keine Medikamente gibt, die ihnen helfen könnten. Zudem müssen Ärzte und Eltern den Sterbewunsch der Kinder unterstützen. Die Mehrheit der belgischen Senatabgeordneten hat einem entsprechenden Gesetzesentwurf bereits zugestimmt; im Februar 2014 gab auch das Parlament seine Einwilligung. Nun muss nur noch der König das Gesetz unterzeichnen, dann können unheilbar kranke Kinder in Belgien bald Sterbehilfe beantragen. In Deutschland ist ein vergleichbares Gesetz zurzeit nicht in Sicht.