Erst waren es die Italiener, dann die Kosovo-Albaner und jetzt die Deutschen: Der Sozialwissenschaftler Marc Helbling erklärt, wann Migranten in der Schweiz auf Unwillen stossen – und warum es unsere Nachbarn besonders schwer haben.
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swissinfo.ch: Herr Helbling, in Ihrer Studie reden Sie von der “Germanophobie” in der Schweiz. Warum fühlen sich die Schweizer von deutschen Zuwanderern bedroht?
Marc Helbling: In der Migrationsforschung können wir immer wieder beobachten, dass Migranten dann als Bedrohung wahrgenommen werden, wenn sie innerhalb kurzer Zeit in hoher Zahl einwandern. Ab Mitte der 1990er-Jahre kam es zu einem starken Zuzug von Deutschen in die Schweiz. Dies, weil die Schweiz gut ausgebildete Arbeitskräfte brauchte; zudem erleichterten die bilateralen Abkommen von 2002 die Einwanderung aus dem Nachbarland. Seit 2005 rangieren die Deutschen in der gesamten Schweiz zahlenmässig auf dem vierten Rang hinter Italienern, Serben/Montenegrinern und Portugiesen.
swissinfo.ch: Die Schweizer befürchten also die schleichende “Germanisierung”, um ein weiteres Schlagwort zu gebrauchen?
M.H.: Bis zu einem gewissen Grad: Ja. Das sieht man auch darin, dass vor allem in Zürich über die Deutschen geklagt wird, wo sie inzwischen die grösste Zuwanderer-Gruppe der Stadt stellen. Als Migrationsforscher könnte man also beinahe von einem Zürcher-Phänomen sprechen. Fragen Sie einmal einen Welschen oder sogar nur schon einen Berner, er wird bestimmt nicht so extrem über die Deutschen schimpfen.
swissinfo.ch: Ist der massive Zuzug der einzige Grund, warum die Emotionen so hochkochen, wenn es um die Deutschen geht?
M.H.: Nein, da steckt noch mehr dahinter. Eine wichtige Rolle spielt die ökonomische Dimension. Im Gegensatz zu den traditionellen Einwanderern der Vergangenheit, die schlecht ausgebildet waren, oftmals die deutsche Sprache nicht beherrschten und Jobs im Niedriglohnbereich besetzten, bewerben sich die Deutschen für hoch qualifizierte Arbeitsstellen. Der typische deutsche Migrant hat einen akademischen Abschluss und ist zum Beispiel Mediziner, Wissenschafter an der Uni oder Informatiker. Schweizer und Deutsche konkurrieren also miteinander in einem eng umkämpften Segment des Arbeitsmarkts. Dies erklärt, warum auch unter gut ausgebildeten Schweizern Anfeindungen gegen die Deutschen auftreten. Ein Phänomen, das wir in der Migrationsforschung sonst nicht beobachten. Da gilt nämlich die These, je gebildeter die Menschen sind, desto weniger fremdenfeindlich sind sie.
swissinfo.ch: Auf der Unbeliebtheitsskala belegen die Deutschen den vierten Rang nach den Migranten aus Ex-Jugoslawien sowie arabischen und türkischen Einwanderern – das zeigt jedenfalls Ihre Studie. Warum mögen wir die Deutschen nicht?
M.H.: Es hat mich überrascht, dass die Deutschen unbeliebter sind als alle anderen Westeuropäer. Denn eigentlich geht man in der Migrationsforschung davon aus, dass vor allem Einwanderer angefeindet werden, die aus fremden Kulturkreisen stammen – was auf die Deutschen auf den ersten Blick nicht zutrifft. Doch anders als Italiener oder Franzosen werden Deutsche von der Schweizern tatsächlich als kulturell sehr unterschiedlich wahrgenommen. Und zwar dadurch, dass eigentlich kleine Unterschiede zwischen den beiden Kulturen eine grosse Bedeutung erhalten. Bestes Beispiel hierfür ist die Sprache: Schweizerdeutsch und Hochdeutsch sind zwar eng miteinander verwandt. Doch Schweizerdeutsch zu sprechen wird von den Schweizern als identitätsstiftend betrachtet, wer Hochdeutsch redet, ist automatisch der Fremde.
Marc Helbling
swissinfo.ch: Viele Schweizer haben doch auch einen Minderwertigkeitskomplex, was das Hochdeutsche betrifft.
M.H.: Ja, dass sich die meisten Schweizer auf Hochdeutsch nicht so eloquent ausdrücken können und Schweizer tendenziell langsamer sprechen als Deutsche, verstärkt natürlich die Abneigung dagegen. Aber es gibt noch mehr kleine Dinge, die eine grosse Bedeutung bekommen. So treten Deutsche in manchen Situationen bestimmter und direkter auf als Schweizer, was immer wieder heftige Abwehr auslöst. Deutsche werden dann schnell als aggressiv bezeichnet. Holländer dagegen, die auch oft als “laut” beschrieben werden, werden nicht so empfunden.
swissinfo.ch: In den 1950er- und 1960er-Jahren kam es in der Schweiz zu massiv fremdenfeindlichen Kampagnen gegen Migranten aus Italien. Heute sind die Italiener in der Schweiz beliebt und geschätzt. Könnte das auch irgendwann auf die Deutschen zutreffen?
M.H.: Wahrscheinlich wird es so kommen, dafür gibt es zahlreiche Beispiele in der Migrationsforschung. Trotzdem ist es keine Lösung, die Fremdenfeindlichkeit, die Deutsche in der Schweiz derzeit erleben, einfach auszusitzen. Rassismus muss man immer ernst nehmen und bekämpfen. Für die Schweiz heisst das, die Politik sollte das Feld nicht der Schweizerischen Volkspartei überlassen, die es bestens versteht, fremdenfeindliche Tendenzen zu schüren. Doch genau wie bei der Minarett-Initiative vermisse ich auch in der aktuellen Debatte starke Stimmen der anderen Parteien.