Paul Nizon hat als junger Autor die Schweiz verlassen, zuerst in Rom und London gelebt und sich schliesslich in Paris niedergelassen. “Ich habe die Schweiz damals sehr hart kritisiert und die Entwicklung gibt mir recht”, sagt er im Gespräch mit swissinfo.ch.
Leben und Schreiben hat Paul Nizon immer als Unterwegssein verstanden. Nach der Veröffentlichung seiner Streitschrift über die Kunstszene der Schweiz, “Der Diskurs in der Enge”, kehrte er seiner Heimat den Rücken zu. Aus Anlass seines 80. Geburtstags ist er aus Paris zu Besuch in die Schweiz gekommen, wo das Literaturarchiv zusammen mit dem Robert-Walser-Zentrum eine Hommage an Paul Nizon durchführte.
swissinfo.ch: Was haben Sie in der Fremde gewonnen?
Paul Nizon: Ich habe vor allem eine unglaubliche Schreibfreiheit gewonnen. Ein grosser Teil meiner Bücher wären gar nicht denkbar ohne Paris, weil es Paris-Romane sind. Die Stadt ist nicht nur Kulisse, sondern literarischer Stoff. Sie ermöglichte mir die Entdeckung dieses Menschen meines Namens, der dort, in dieser anderen Kultur, neu angefangen hat. Ich bin als dichterische Emigrantenexistenz in den französischen Kulturraum eingetreten und dort aufgenommen worden. Das passte mir gut.
swissinfo.ch: Ging es Ihnen darum, den deutschen Sprachraum zu verlassen?
P.N.: Deutschland war mir vertraut und ich wollte davon Abstand nehmen und nichts mit dieser Mentalität zu tun haben, die nach dem Krieg sehr unsympathisch war. Die Schweiz war mir zu eng, zu bekannt. Ich war damals eine öffentliche Figur, hatte in der Zürcher “Woche” eine Kolumne mit meinem Bild. Ich wurde überall sofort erkannt und hatte meine Leserschaft. Es gab einen Kreis von etwa 15 Schriftstellern meiner Generation, die den Kuchen unter sich aufteilten. Ich kam mir vor wie ein Zirkustier in einer Arena. Ich zeigte mein Kunststück, Loetscher zeigte seines und Muschg seines… einfach widerlich! Ich bin ein Sicherheitsverächter. Ich wollte nicht ein Pfund erwerben, hüten und anlegen. Ich wollte die grosse Kunst erobern. Das konnte ich in der Schweiz nicht.
swissinfo.ch: Sie haben 1970 den Begriff “Diskurs in der Enge” geprägt. Ist die Schweiz heute noch enger oder im Gegenteil weiter geworden?
P.N.: Ich bin immer hart mit der Schweiz umgegangen, und die Entwicklung gibt mir recht. Doch es ging mir damals nicht nur um die Enge, sondern auch um die Verlogenheit und die Profitierhaltung der Schweiz unter der Maske der Unsichtbarkeit. Inzwischen ist das weltbekannt. Meine damalige Kritik hat sich bewahrheitet, ich muss sie heute nicht als Jugendsünde zurücknehmen.
swissinfo.ch: Die Annahme des Minarett-Verbots hat die Schweiz an den Rand einer Identitätskrise geführt. Ist die Schweiz besonders islamfeindlich?
P.N.: Alle europäischen Länder kennen die Islamfeindlichkeit, weil uns ununterbrochen die Gleichung Islam =Terrorismus serviert wird. Die Minarette sind nur ein Symbol. Merkwürdigerweise geht es ja in der Schweiz um Muslime aus dem Balkan, die sich viel diskreter verhalten als Muslime aus anderen Ländern. Je unübersichtlicher die globalisierte Welt ist, umso prekärer wird die Frage nach der Identität. Diese Identitätsfrage ist heute überall aktuell. Die Minarett-Initiative hat eine bereits vorhandene Diskussion über die Integrierbarkeit des Islams in unsere westeuropäische Kultur noch weiter zugespitzt. In der Schweiz ist das nicht anders als in anderen Ländern.
swissinfo.ch: Sie haben sich nie ins politische Geschehen der Schweiz eingemischt, im Gegensatz etwa zu Max Frisch, den Sie gut kannten. Ein anderer Autor ist der gleichaltrige, dieses Jahr verstorbene Hugo Loetscher, der wie Sie viel unterwegs war. Fühlen Sie sich Loetscher verwandt?
P.N.: Überhaupt nicht, im Gegenteil! Wir mochten uns nicht riechen, nicht einmal über eine Distanz von vielen Kilometern. Das war gegenseitig.
swissinfo.ch: Bezieht sich diese Distanz auch auf das literarische Schaffen?
P.N.: Wir sind auch als Autoren sehr verschieden. Loetscher war zum Teil ein Reiseschriftsteller. Er war ein Weltenbummler, das bin ich überhaupt nicht. Ich bin kein Reisender. Ich habe mich immer irgendwohin zurückgezogen, meistens in grosse Städte, weil ich in grosse Städte vernarrt bin und die Arbeitssituation dort schätze.
swissinfo.ch: Was bedeutet Ihnen die grosse Stadt?
P.N.: Die Unendlichkeit. Ich fühle mich häufig bedroht von Langeweile. In einem abgeweideten Raum, der mir allzu bekannt wird, beginne ich rasch, mich zu langweilen. Das kann sich zu einer Depression entwickeln. Zweitens ist es die Schönheit, die mich interessiert, besonders an Städten mit monarchischer Vergangenheit.
swissinfo.ch: Sie werden am 19. Dezember 80 Jahre alt, das Schweizer Literaturarchiv ehrt Sie mit einer Hommage. Bedeutet dieser Geburtstag eine Zäsur in Ihrem Leben?
P.N.: Das Alter ist kein Verdienst, sondern eine deprimierende Tatsache, von der man sich möglichst nicht berühren lassen sollte. Es sind Feste, die man eher für die anderen ausrichtet, das wird einem abverlangt. Es hat mich allerdings schon gerührt, dass die Sorbonne in Paris ein zweitägiges Colloquium über mein Werk veranstaltete. Auch die Hommage im Literaturarchiv freut mich. Danach gehe ich zurück nach Paris und schreibe weiter an meinem Roman.