Zwei- bis dreimal täglich melden sich Jugendliche beim Notruf der Pro Juventute mit Gedanken über Suizid
Jeden Tag kontaktieren rund 350 Kinder und Jugendliche die Notrufnummer 147 von Pro Juventute. Durchschnittlich zwei- bis dreimal täglich melden sich Jugendliche mit Suizidgedanken oder Fragen zu diesem Thema bei den Beratern. Laut der Stiftung nimmt der Anteil der Anfragen zu schwerwiegenden Problemen weiter zu: Im Jahr 2017 drehten sich rund 29 Prozent aller Meldungen um Fragen zu persönlichen Krisen, Suizidgedanken, Angst und ähnlichen Themen. 2009 hatte dieser Anteil noch rund 11 Prozent betragen.
Stress, Druck und Überforderung
Der Hilfeschreie kommen beispielsweise von einem 15-jährigen Jungen: «Ich will in der Familie nicht mehr so leben, weil mein Vater eine Scheissmissgeburt ist. Helfen Sie mir. Ich will nicht mehr leben.» Er droht: «Wenn Sie keine Lösung haben, da töte ich mich. Danke.» Zutiefst verzweifelt ist auch eine 14-Jährige.
«Ich werde gemobbt, weil ich angeblich auf Frauen stehe. Ich werde oft als Schlampe bezeichnet, weil ich mich anscheinend so kleide», schreibt die Jugendliche. Sie frage sich echt, was an ihr so falsch sei, denn eine Antwort darauf bekomme sie nicht. «Ich denke oft darüber nach, mir das Leben zu nehmen oder abzuhauen.» Im vergangenen Jahr suchten knapp fünf Prozent der Jugendlichen Hilfe im Zusammenhang mit dem Thema Suizid oder konkreten Suizidgedanken. 2011 waren es erst 1,5 Prozent gewesen. Pro Juventute führt den Anstieg darauf zurück, dass Druck und Überforderung heute auch junge Menschen und gar Kinder betreffen. Auch litten diese zunehmend unter Stress.
Die meisten suchen so nach einer Lösung
Pro Juventute wertet den Anstieg nicht nur negativ. «Die vermehrten Anfragen zeigen, dass die Jugendlichen in ihrer Krise eine Lösung suchen», sagt Thomas Brunner, Abteilungsleiter Beratung und Unterstützung. Drohe ein Jugendlicher mit Suizid, handle es sich zudem oft um eine sehr impulsive Reaktion auf ein Problem.
«Meist haben die Betroffenen keinen Todeswunsch, sondern können einfach nicht mehr gleich weitermachen.» Laut Brunner gelingt es den Beratern in den meisten Fällen, die Jugendlichen zu stabilisieren. «In jährlich rund 50 Fällen genügt ein Gespräch aber nicht, sodass wir eine Blaulichtorganisation aufbieten müssen.»
In solchen Situationen blieben die Berater auch mal am Telefon, bis sich die Person an einen sicheren Ort begeben habe. «Es kann vorkommen, dass wir warten, bis sie in den Bus einsteigt, und mit ihr am Draht bleiben, während sie eine Dreiviertelstunde quer durch die Stadt bis in die Klinik fährt.»
Chat-Kanal soll Hilfe bieten
Um Jugendliche in Krisensituationen noch besser unterstützen zu können, bietet Pro Juventute ab sofort jeweils am Montagabend von 19 bis 22 Uhr einen Chat-Kanal mit jugendlichen Peer-Beratern. Dazu zählt etwa die 18-jährige Gymnasiastin Valy. «Ich lebe mit meiner Mutter, war als Kind aber oft in einer Pflegefamilie, wenn es ihr nicht gut ging und sie in der Psychiatrie oder im Spital war», stellt sie sich vor. Aus eigener Erfahrung könne sie die Jugendlichen unter anderem zu Selbstverletzung und Suizidgedanken beraten. Ein Student namens SommerBrise berichtet, in einer Patchworkfamilie aufgewachsen zu sein. Aufgrund persönlicher Erfahrungen könne er die Jugendlichen etwa zur Trennung der Eltern, zu Freundschaften, Liebeskummer und Coming-out beraten. Ein erfahrener Peer-Coach begleitet die jungen Berater. Die Fachperson gibt Tipps, macht auf Gefahren aufmerksam und kann von Jugendlichen zur Unterstützung beigezogen werden. Im Notfall greift sie auch direkt in einen Chatverlauf ein und kann eine Krisenintervention auslösen.
Schamthemen per Smartphone erkundet
Bei den Anfragen zu den Themen Sexualität und Liebe registriert Pro Juventute dagegen einen Rückgang. Sexualität belegt mit 11,8 Prozent aller Kontakte, hinter dem Thema Familie, nur noch den dritten Platz in der Rangliste. In der Themengruppe Sexualität fasst Beratung + Hilfe 147 beispielsweise Anfragen zu Schwangerschaft, Verhütung, sexueller Orientierung oder Sexting zusammen.
Das Bedürfnis nach persönlicher Beratung zu diesen Themen sei weniger gross als früher. Die Stiftung führt dies zurück auf das grosse Informationsangebot im Internet und die weitgehend flächendeckende Verfügbarkeit von Smartphones und anderen Geräten mit Internetzugang bei Jugendlichen in der Pubertät. Schambesetzte Themen liessen sich so einfacher behandeln.
Tijana Nikolic